23.09.2016 Arbeitspapiere

Abschlussbericht der Interviewstudie zur Kompetenzmodellierung im Compliance-Management

 

Einführung


Compliance umfasst alle Maßnahmen, die von einem Unternehmen ergriffen werden, um Regeln einzuhalten (Behringer, 2012). Grundlage ist eine ethisch fundierte Unternehmensführung entlang des Leitbildes des „ehrbaren Kaufmanns“. Neben den eher operativen Maßnahmen (z. B. bei der Abrechnung von Reisekosten), geht es auf strategischer Ebene vor allem darum, durch das Compliance-Management größere Haftungsrisiken zu umgehen, adäquat auf diese zu reagieren darauf zu reagieren und damit Wettbewerbsvorteile zu erreichen.

 

Die Verantwortung, für ein funktionsfähiges Compliance-Management-System zu sorgen, liegt bei Vorständen bzw. Geschäftsführern. In der Praxis wird diese Aufgabe allerdings meist an untere Hierarchieebenen delegiert. Denjenigen, deren Hauptaufgabe es ist, das compliancebezogene System tatsächlich zu etablieren und zu betreiben, kommt fraglos eine zentrale Bedeutung zu. Die Funktions- oder Stellenbezeichnungen sind nicht einheitlich geregelt und reichen von Compliance Officer bis hin zu Leiter der Rechtsabteilung. Allen gemeinsam ist jedoch die zentrale Aufgabe, rechtlich einwandfreies und moralisch vertretbares unternehmerisches Handeln wahrscheinlich zu machen. Welche fachlichen und vor allem überfachlichen Kompetenzen für diese sensiblen Aufgaben gefordert sind und was „gute Compliance Officer“ von weniger guten unterscheidet, ist jedoch noch weitgehend unklar. Insgesamt ist es also an der Zeit, einen genaueren Blick auf diese Berufsgruppe zu werfen.

Mit der vorliegenden Studie werden überfachliche Kompetenzen mit Hilfe leitfadengestützter Interviews ermittelt. Dies ist ein erster Schritt zur Kompetenzmodellierung in diesem Bereich (Campion et al., 2011). Dazu wurden 25 Fachexperten, die zum größten Teil selbst im operativen Compliance-Management Erfahrungen sammeln konnten, systematisch befragt. Insgesamt klärt die Studie auch über das Selbstverständnis der im Compliance-Management Tätigen auf. Der vorliegende Bericht fasst die Hauptergebnisse zusammen. Im ersten Kapitel wer-den die dem Interview zugrunde liegenden Fragestellungen ausdifferenziert. Im zweiten Kapitel werden die Methode und die Stichprobenbeschreibung dargestellt. Kapitel 3 umfasst die Ergebnisse und stellt diese entlang der Hauptfragestellungen zusammen. Kapitel 4 ist als Exkurs konzipiert, denn hier wird der (potenzielle) Wertbeitrag der Organisationspsychologie zum Compliance-Management skizziert. Kapitel 5 zieht ein Fazit und umreißt Handlungsempfehlungen für die Praxis, schließlich wird in Kapitel 6 ein Ausblick gegeben und kurz berichtet, wie Kompetenzmodellierung im Compliance-Management professionell weiterbetrieben werden sollte.


1. Fragestellungen


Von übergreifendem Interesse war die Fragestellung, welche überfachlichen Kompetenzen Compliance Officer benötigen. Detaillierter waren wir daran interessiert,
  • nach welchen Kriterien Compliance Officer ausgewählt werden,
  • welche Qualifikationen und fachliche Kompetenzen sie mitbringen,
  • wie sie ggf. mit Rollenkonflikten umgehen,
  • was für diese Experten Erfolg bedeutet,
  • wie die Kultur und die Führungskräfte sowie
  • das Human-Resources-Management den Bereich wirksam(er) unterstützen können.

2. Methode und Stichprobe


Erhebungszeitraum und Interviewanbahnung
Alle Interviews wurden durch den Erstautor durchgeführt, das erste Interview fand am 21.04.2014 in Hamburg statt, das letzte am 17.05.2016 in Berlin. Der relativ lange Zeitraum von zwei Jahren lässt sich durch die Herausforderungen der Terminfindung mit den teilweise sehr stark eingebundenen Interviewpartnern erklären. Insgesamt ist jedoch zu konstatieren, dass so gut wie alle direkten Anfragen durch die Autoren positiv beantwortet wurden. Alle Interviewpartner erhielten eine ähnlich lautende Anfrage per E-Mail, in der über Zweck, Dauer des Interviews sowie dessen wissenschaftliche Fundierung und Ergebnisverwertung informiert wurde. Insbesondere wurde außerdem auf die Anonymisierung und den Verzicht auf eine Audio-Aufzeichnung verwiesen. Der Verzicht auf Audio-Aufzeichnung war in unserem Falle eine Grundvoraussetzung für die Schaffung von Vertrauen, denn Compliance- Management be-handelt häufig hoch sensible, unternehmensinterne Themen. Vorab erhielten alle Interviewpartner den Leitfaden sowie die kurzen quantitativen Fragebögen zur Ansicht bzw. zur Bearbeitung im letztgenannten Fall. Ferner wurden in einigen Fällen telefonisch Fragen zur Durchführung und Weiterverwendung der Daten geklärt. In einem Fall wurde der Erstautor gebeten, eine schriftliche Stellungnahme zur Voll-Anonymisierung der Daten zu unterzeichnen.

 

Interviewdurchführung
Die Durchführung fand in vier Fällen in Räumen der EBC Hochschule Hamburg statt. 19 weitere Befragungen fanden vor Ort in den Räumen der jeweiligen Unternehmen statt. Zwei Interviews fanden telefonisch statt, eines davon mit einem nicht deutschen Experten für Compliance-Management. Die Interviews dauerten i. d. R. 60-90 Minuten, also z. T. deutlich länger als geplant und vorab an die Interviewpartner kommuniziert. Dies kann auf ein großes Interesse am Thema zurückgeführt werden, da es häufig nach den Interviews noch zu einem ausführlichen informellen Austausch kam. Insgesamt waren der Empfang vor Ort sowie die folgenden Gespräche von großer Offenheit geprägt, was sich vermutlich positiv auf die Informationsmenge und -güte auswirkte. Die Interviews wurden handschriftlich während des Inter-views protokolliert. Diese Protokolle wurden i. d. R. direkt nach der Durchführung transkribiert und aus dem Gedächtnis ergänzt (wegen des Verzichts auf eine Audio-Aufzeichnung). Dazu wurde nach vorheriger Absprache häufig ein separater Raum des jeweiligen Unternehmens aufgesucht. In einer späteren Phase wurden Kategorien gebildet, dies geschah z. T. theorie-geleitet (s. u.).

 

Stichprobe und Branchen
23 von 25 Personen waren Fachexperten des Compliance-Managements mit entsprechen-der (Teil-) Funktion in Unternehmen oder einschlägiger Hochschul- und Beratungsexpertise. Eine Person fungierte als Interims-Manager mit starken Berührungen zum Compliance-Management, ein weiterer Interviewpartner arbeitete als Berater im Bereich Risiko-Management/Forensik. Aktuell oder bis vor kurzem operativ in Unternehmen tätig waren 18 Personen. Insgesamt wurden unterschiedliche Funktionsbezeichnungen verwendet, beispielsweise Chief Compliance Officer, Head of Legal, Leiter Revision etc. Die Berufserfahrung betrug in allen Fällen mehr als 15 Jahre. Es fanden sich z. T. erhebliche Unterschiede im Zugang zur Tätigkeit, i. d. R. waren es jedoch betriebswirtschaftliche oder juristische Zugänge (ausführlicher in Kapitel 3.1).

 

Die Interviewpartner waren mehrheitlich Männer (22 von 25), 19 Personen hatten oder ha-ben Führungsverantwortung, 3 Personen hatten oder haben keine Führungsverantwortung, keine Angaben dazu lagen bei 3 Personen vor. Hier kann also von einer Führungskräfte-Befragung gesprochen werden. 2 Personen hatten ein bis zwei Jahre Führungserfahrung, 6 Personen drei bis fünf Jahre, 5 Personen sechs bis zehn Jahre und 5 Personen hatten mehr als zehn Jahre Führungserfahrung (Rest ohne Führungserfahrung oder keine Angaben). Für die Anzahl der Mitarbeiter ergab sich folgendes Bild: 9 Interviewpartner hatten Verantwortung für weniger als fünf Mitarbeiter, 7 für sechs bis zehn und 2 für mehr als zwanzig Mitarbeiter (Rest ohne Führungsaufgabe oder keine Angaben).

Die vertretenen Branchenhintergründe waren sehr unterschiedlich, sie reichten von Handelsunternehmen bis hin zu Banken, Beratungsunternehmen sowie Unternehmen der Schwer- und Elektroindustrie.

 

Kategorienbildung
Die Ermittlung zentraler Kategorien erfolgte gemäß gegebener Standards der qualitativen Forschung (Mayer, 2013; Mayring, 2010; Helfferich, 2005). Ein Teilbereich der Auswertung bestand in einer theoriebasierten Kategorisierung und der entsprechenden inhaltlichen Zuordnung ausgewählter Aussagen der 25 Expertinnen und Experten (Great-Eight-Ansatz; Baron, Bartram & Kurz, 2003). Die Aussagen wurden acht überfachlichen Kompetenzen zugewiesen, die in Kapitel 3.2.2 weiter erläutert werden. Damit ist das Kriterium der deduktiven Kategoriendefinition erfüllt (Mayring, 2015, S. 85).

Darüber hinaus wurden beispielsweise bezüglich der Frage nach Rollenkonflikten und der Rolle des Human-Resources-Managements weitere inhaltliche Kategorien gebildet, da diese keinen unmittelbaren Bezug zum o. g. theoretischen Ansatz aufwiesen und da der deduktive Ansatz selten erschöpfend ist. Somit wurde ebenfalls eine induktive Kategoriendefinition realisiert (ebenda).


3. Ergebnisse


Hier werden die Hauptergebnisse dargestellt, beginnend mit den Zugängen zur aktuellen Tätigkeit im Bereich Compliance-Management. Ferner wird es um die Bedeutsamkeit von Qualifikationen und Kompetenzen, Rollenkonflikte, Management und Organisationskultur, Er-folge im Compliance-Management und die Rolle des Human-Resources-Managements gehen. Am Schluss erfolgt eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse. Im Folgenden wird die englische Abkürzung CCO (plural CCOs) für Chief Compliance Officer als Platzhalter verwendet. Es sind damit alle möglichen Funktionsbereiche, deren Schwerpunkt das Compliance-Management darstellt, gemeint.


3.1 Auswahlerfahrungen der Interviewpartner: wie wird man CCO?


Hier werden Ergebnisse bezüglich der durch CCOs mitgeteilten Zugänge zur Tätigkeit bzw. zum Funktionsbereich dargelegt.
Insgesamt konnten einige Zugänge zur Funktion der 18 operativ Tätigen nachgezeichnet werden, dies wird in Tabelle 1 geordnet dargestellt. In einigen Fällen konnten oder wollten Interviewpartner die genauen Hintergründe nicht schildern. Einen juristischen Hintergrund wiesen 5 der CCOs auf, einen betriebswirtschaftlichen Hintergrund hatten 11 Personen, lediglich ein Interviewpartner hatte einen „Misch-Hintergrund“ (Ingenieursbereich), weiterhin fehlte eine Angabe. Zwei der Interviewpartner besaßen vor ihrer aktuellen Anstellung eine Zusatzausbildung im Bereich Compliance-Management (Studium oder Weiterbildung, danach wurde allerdings nicht explizit gefragt).

 

Insgesamt halten sich Bewerbungen aus (ausschließlich) eigenem Antrieb (8 Aussagen) mit denjenigen durch direkte Ansprache im Unternehmen (9 Aussagen) die Waage, wie Tabelle 1 zeigt. Viermal wurden explizit Controllingerfahrungen als wichtig erachtet und fünfmal waren Geschäftsprozesskenntnisse von großer Bedeutung. In immerhin 8 Fällen waren die Kriterien der Auswahl nicht explizit bekannt oder wurden nur indirekt erschlossen. Dies ist ein problematisches Ergebnis, widerspricht es doch grundlegenden Anforderungen an die Durchführung von Personalauswahl (Schuler & Kanning, 2014), darauf wird in Kapitel 5.2 weiter eingegangen.

 

Interessanterweise betonte ein Interviewpartner (Jurist), dass ein juristischer Hintergrund für eine gute Arbeit im Compliance-Management nicht in allen Unternehmen vonnöten sei. Ein weiterer Interviewpartner (betriebswirtschaftlicher Hintergrund) betonte: „Es sollte kein klassischer Jurist sein, viele von denen können ja nicht einmal eine PowerPoint erstellen.“ Eine weitere Person äußerte sich hierzu ebenfalls. Bis dato habe man auch gar keine Juristen im Hause: „Vielleicht brauchen Händler keine Juristen.“ Man habe überlegt, die Position extern zu vergeben. Die Personen passten aber nicht, das Problem sei gewesen, dass man niemanden gefunden habe, der die Prozesse dieses Familienunternehmens verstanden habe (s.oben). Es gebe viele Sonderfälle und er sei zu diesem Zeitpunkt bereits seit 3 Jahren im Unternehmen gewesen. Ein weiterer Experte, der selbst nicht operativ tätig ist, aber einen juristischen Hintergrund besitzt, machte deutlich, dass er, wenn er die Wahl hätte, überhaupt nur dann einen „BWLer“ einstellen würde, wenn dieser über ausgeprägte Rechtskenntnisse verfüge. Hier wird ein relativ heterogenes Bild bezüglich der Frage nach der Notwendigkeit einer juristischen Vollausbildung deutlich.

 

Ein Interviewpartner merkte an, dass er den Eindruck habe, im Bereich Compliance-Management seien in der Vergangenheit in vielen Unternehmen diejenigen als CCOs eingesetzt worden, für die man keine Verwendung mehr gehabt habe, das ändere sich aber gerade. Ein weiterer Interviewpartner betonte, dass CCOs vermutlich nicht zu kreativ sein sollten, da sie sonst der Führung gefährlich oder zumindest unangenehm werden könnten. Wichtig sei wohl auch die Fähigkeit, vorhandene Strukturen erklären zu können − mehr als zu verändern. Vermutlich seien nicht gerade „Revoluzzer“ gefragt, sondern eher die Anpassungsfähigen, die der Führung den Rücken freihalten.


3.2 Bedeutsamkeit von Qualifikationen und Kompetenzen


An dieser Stelle werden zentrale Ergebnisse der Frage nach der Bedeutung fachbezogener Qualifikationen und überfachlicher Kompetenzen dargestellt und erläutert. Qualifikationen um-fassen fachspezifisches Können. Kompetenzen (Bildat & Schmidt, 2014) umfassen i. d. R. auch Qualifikationen, immer aber setzen sie sich zusammen aus

 

  • motivationalen Aspekten (Ziele, Ausdauer und Energie),
  • Wissensgrundlagen (Fakten- und Prozesswissen),
  • Charaktermerkmalen wie beispielsweise Extraversion (gesellig und gesprächig sein, viele Kontakte haben) und
  • kognitiver Leistungsfähigkeit.

Berufliche Kompetenzen sind außerdem (nur) im Handeln oder durch Betrachtung von Handlungsergebnissen sichtbar und deshalb ggf. schwieriger zu erfassen als reine Wissensbestände. Hinzu kommt, dass das kompetente Handeln auch von organisationalen Rahmenbedingungen beeinflusst wird, beispielsweise durch einen größeren oder geringeren Handlungsspielraum des Mitarbeiters. Wenn im Folgenden also von Kompetenzen und Qualifikationen die Rede ist, dann immer im o.g. Sinne.

 

US-amerikanischer Ansatz der Kompetenzmodellierung im Compliance-Management
Das Onlineportal O*Net (Occupational Information Network, http://www.oneton-line.org/link/summary/11-9199.02, Abruf 13.06.2016), welches mit Unterstützung des US Department of Labor/Employment and Training entwickelt wurde, bietet sehr ausführliche Kompetenzbeschreibungen aller denkbaren „Jobfamilien” an. Die Daten werden jährlich auf Basis von Mitarbeiter- und Expertenbefragungen aktualisiert (repräsentative Zufallsstichproben, vgl. Human Resources Research Organisation, 2012). Eine solche Datenbank ist unseres Wissens im deutschsprachigen Raum nicht vorhanden. Im „Detailed Report for Compliance Managers“ werden umfangreiche Informationen zur Qualifikation, zu Wissensgebieten, Fähigkeiten sowie Softskills für diese Berufsgruppe im US-amerikanischen Kontext gegeben.

 

Zu den benötigten Fähigkeiten (abilities) gehören mündliches Ausdrucksvermögen (oral expression) ebenso wie die Fähigkeit, sich adäquat schriftlich ausdrücken zu können. Im Bereich der Fertigkeiten (skills) wird an erster Stelle kritisches Denken genannt und weiter beschrieben als Nutzung rationalen Schlussfolgerns, um Schwächen und Stärken alternativer Lösungen abzuwägen. Ferner werden für Compliance-Manager aktives Zuhören (active listening) sowie weitere soziale Fertigkeiten, wie das sich bewusst machen der Verhaltensabsichten und Reaktionen anderer, als wichtig erachtet. Das wird offenbar von deutschen CCOs ähnlich gesehen, wie weiter unten ausführlich dargelegt wird.


3.2.1 Qualifikationen


Qualifikationen sind zertifizierbar und i. d. R. gut überprüfbar, sie sind aber auch „mechanisch abgefordertes Prüfungshandeln“ (Erpenbeck & von Rosenstiel, 2003). Insofern liefert der Blick darauf zwar erste Hinweise beispielsweise auf die Güte von Entscheidungen und Handlungen von in der Praxis Tätigen, ersetzt den genaueren Blick darauf aber nicht. Einige der für die Auswahl zukünftiger Compliance-Manager wichtigen Kriterien und Qualifikationen wurden bereits weiter oben in Kapitel 3.1 aufgezeigt. Die Einschätzung berufsbezogener Kompetenzen bedarf anderer Ansätze, nämlich des genauen Blicks auf konkrete Tätigkeitsmerkmale der Arbeitspraxis, wie nun deutlich wird.


3.2.2 Überfachliche Kompetenzen


Überfachliche Kompetenzen oder sogenannte Soft Skills sind seit langem Thema in der berufspädagogischen wie (instruktions-) psychologischen Literatur. Bereits vor ca. 40 Jahren wurden sogenannte „Schlüsselqualifikationen“ skizziert, also solche Fähigkeiten und Fertig-keiten, welche die Eignung für eine große Zahl von Positionen und Funktionen ausmachen und die Bewältigung oft unvorhersehbarer Änderungen von Anforderungen ermöglichen (Mertens, 1974). Kompetenzen und Kompetenzmodelle sind bei Praktikern und Forschern gleich-ermaßen aktuell (Bartram, 2012; Krumm, Mertin & Dries, 2012). Weinert (2001, S. 45) mahnte aber bereits vor mehr als 15 Jahren vor einer „konzeptuellen Inflation“ im Bereich der Kompetenzdebatte (er zählte rund 650 verschiedene Schlüsselkompetenzen in deutschsprachigen Werken auf).

Um „kontrainflationär“ zu arbeiten, wurde in der vorliegenden Studie u. a. ein generisches Kompetenzmodell genutzt. Diese „forschungsbasierte Blaupause“ für die Kategorisierung der Antworten rund um überfachliche Kompetenzen geht auf Baron, Bartram und Kurz (2003) zu-rück. Es stützt sich in weiten Teilen auf eine bekannte psychologische Taxonomie der Persönlichkeit. Dabei handelt es sich um die sogenannten „Big-Five-Faktoren“ der Persönlichkeit (Costa & McCrea, 1992a) sowie um weitere personenbezogene und berufsrelevante Variable.

 

Diese „Blaupause“ wurde zweifach eingesetzt, einmal wurden die Aussagen der Interviewpartner daraufhin überprüft, ob sie sich diesen vorgegebenen Kompetenzclustern zuordnen ließen. Zum anderen wurde auch ein kurzer Fragebogen eingesetzt, die Ergebnisse dazu werden nun vorgestellt.

 

Auswertung des Fragebogens zur Einschätzung überfachlicher Kompetenzen
Neben qualitativen Informationen interessierte uns auch eine oben erwähnte quantitative Einschätzung per Fragebogen (s. Anhang). Abbildung 1 zeigt einen Auszug aus dem eingesetzten Instrument zur Einschätzung überfachlicher Kompetenzen im Compliance-Management. Hier konnten die Interviewpartner auf einer fünfstufigen Skala (von „völlig unwichtig“ bis „sehr wichtig“) die Bedeutsamkeit entsprechender Kompetenzen bewerten.

Als besonders bedeutsam werden solche Kompetenzen eingeschätzt, die ein hohes Maß an Kommunikation erfordern: Führen und Entscheiden, Unterstützen und Kooperieren sowie Interagieren und Präsentieren weisen Werte der Zustimmung auf, die den Wert 4 einschließen oder übertreffen (4 = „wichtig“). Dies geschieht recht einheitlich (geringe Streuung). Alle anderen Kompetenzen werden als moderat bedeutsam eingeschätzt (Werte um 3 = „einigermaßen wichtig“). Die Bewertung ist teilweise heterogen, die Streung der Kompetenzen Anpassen und Bewältigen und Unternehmerisches Denken und Handeln liegt über einer Standardabweichung. Das Ergebnis für die Kompetenz Führen und Entscheiden überrascht nur auf den ersten Blick (denn nicht alle hatten Führungsverantwortung). In der Beschreibung dieser Kompetenz finden sich beispielsweise Punkte wie „Entscheidungen hauptverantwortlich treffen, im Zweifelsfalle persönlich dafür haften.“ Der Alltag der Befragten hat offensichtlich damit etwas zu tun. Auf das Problem der Haftung wird auch in Kapitel 5.2.2 noch ausführlicher eingegangen.

 

Den o. g. Kompetenzen werden nun in Tabelle 3 exemplarisch einige Aussagen der Interviewpartner an die Seite gestellt (theoriegeleitete Kategorisierung nach Baron, Bartram & Kurz, 2003). Hier wurden Frage 4 (erfolgskritische Ereignisse) und Frage 8 (überfachliche Kompetenzen) überprüft.

 

Zeigen sich diese Tendenzen auch in der Einschätzung vorgegebener Persönlichkeitsmerkmale? Hier war eine reine Rangvergabe gefordert. Das macht die Wahl u. U. schwerer, da die Vergabe eines Ranges zwangsweise über die nachfolgenden Plätze entscheidet. Anzunehmen wäre dennoch, dass korrespondierend zu den als bedeutsam erachteten interaktionsnahen Kompetenzen beispielsweise Extraversion und Verträglichkeit auf den oberen Rängen zu finden sind. Dies war nicht der Fall, wie die folgende Darstellung zeigt (N=22 bei drei fehlenden Daten durch zwei Mehrfachvergaben der Ränge und einem fehlenden Datensatz):

 

  1. Emotionale Stabilität
  2. Gewissenhaftigkeit
  3. Einflussmotivation
  4. Offenheit für Neues
  5. Leistungsmotivation
  6. Verträglichkeit
  7. Extraversion

Wie ersichtlich, gibt es hier auf den ersten Blick widersprüchliche Ergebnisse. Zwar werden „kommunikationsstarke“ Kompetenzen als sehr wichtig eingeschätzt, aber korrespondierende Personeneigenschaften nicht alle auf entsprechende Rangplätze verwiesen. Eine gute Übereinstimmung finden wir bei „Einflussmotivation“ auf Rang 3. In der Kompetenzeinschätzung nimmt die Kompetenz Führen und Entscheiden den 1. Platz ein, unterscheidet sich aber bezüglich des Mittelwertes nicht von der Kompetenz Unterstützen und Kooperieren. Hierzu gibt es sicher mehrere Erklärungsansätze.

 

Das Methodenproblem wurde angedeutet: Die Einordnung der Personenmerkmale fanden per Rangvergabe statt (zu wählende Kategorien sind dann nicht unabhängig voneinander, dies kann die Antwort verzerren). Ferner kann, trotz Erläuterungen im Fragebogen, ein unterschiedliches Alltagsverständnis von Charaktermerkmalen wie z. B. „Extraversion“ vorliegen. Nicht jeder, der aus dem Alltagsverständnis als extravertiert gilt, zeigt beispielsweise auch gute Leistungen in der Interaktion mit anderen Menschen. Außerdem kann hier auch eine selbstwertdienliche Verzerrung gewirkt haben: Man verweist diejenigen Eigenschaften, die man selbst nicht hat, auf niedere Ränge. Ferner mag es sein, dass die Kompetenzeinschätzung eher einen tätigkeitsbezogenen „Ist-Stand“ abbilden (eine Art „Job-Description“), die Rangvergabe aber eher einen „Wunschkandidaten“ zeigt („so sollte man gestrickt sein“). Hiermit zusammenhängend könnte es auch sein, dass beispielsweise die emotionale Stabilität (Rang 1) als Basis des Führens und Entscheidens bzw. des Unterstützens etc. wahrgenommen wurde.

 

Kontrastierung der Auswahlkriterien (Kapitel 3.1) mit überfachlichen Kompetenzen
Vergleicht man die Ergebnisse bezüglich derjenigen Kriterien, die von den Experten in Sachen eigene Auswahl (vermutlich) ausschlaggebend waren mit denjenigen Kompetenzen, die sie selbst als bedeutsam erleben und erachten, ergibt sich ein interessantes Bild. Die Kriterien, die bedeutsam in der täglichen Arbeit sind, tauchen im Rahmen der Personalauswahl für die Arbeit im Compliance-Management nicht oder kaum auf. Dazu gehören das Interagieren und Präsentieren ebenso wie das Anpassen und Bewältigen sowie das Unterstützen und Kooperieren. D. h. Experten des Compliance-Managements wurden ggf. nach Kriterien ausgewählt, die vielleicht notwendig, aber keines falls hinreichend für ein erfolgreiches Tun sind. Hier liegt eine Stärke der frappierendsten Erkenntnisse der Untersuchung: Auf Basis der Befragung kann die Erarbeitung eines Kompetenzmodells fundierter beginnen, mehr dazu in Kapitel 5 und 6.

 

Das folgende Kapitel klärt die Frage, ob und wenn, inwiefern Experten des Compliance- Managements mit Rollenkonflikten konfrontiert sind.


3.3 Rollenkonflikte im Compliance-Management


Die Ermittlung von Rollenkonflikten (RK) ist deshalb von Bedeutung, weil sie im Funktionsbereich des Compliance-Management sehr wahrscheinlich sind. Es kann nach Aussagen einiger Interviewpartner beispielsweise vorkommen, dass sowohl investigative als auch aufklärungs- und informationsorientierte Rollen eingenommen werden müssen. Auf Einzelaussagen hierzu wird weiter unten eingegangen.

 

Aus der psychologische Organisationsforschung sind Auswirkungen von Rollenkonflikten seit Langem ein Thema (Kahn et al., 1964). Örtquist und Wincent (2006) konnten in ihrer Metaanalyse zeigen, dass Rollenkonflikte (sich widersprechende Aufgaben) und Rollenambiguität (Aufgaben nicht genau kennen) moderat negativ korrelieren mit Arbeitszufriedenheit, Commitment und Kreativität. Das bedeutet beispielsweise, dass Rollenkonflikte mit geringerer Arbeitszufriedenheit und innerer Bindung an das Unternehmen einhergehen. Ein positiver Zusammenhang zeigte sich mit erlebter Spannung (i. S. v. Atmosphäre), Kündigungsneigung und emotionaler Erschöpfung (ein Bestandteil des Burnouts, Anm. Bildat).

 

In manchen Studien allerdings finden sich auch gegenteilige Effekte von Rollenkonflikten dergestalt, dass diese zu mehr Kreativität führen können. Hier spielen aber neben Stichpro-benspezifika wie Unternehmensbranche und kultureller Hintergrund auch die Selbstwirksamkeit (Glaube an das Gelingen eigener Handlungen; Bandura, 1982) und die Arbeitszufrieden-heit eine Rolle (Tang & Cheng, 2010). Bei hoch ausgeprägter Selbstwirksamkeit und Arbeitszufriedenheit kann die Wirkung von Rollenkonflikten auf Mitarbeiterkreativität positiv ausgeprägt sein (Vorsicht ist aber geboten aufgrund des Querschnittdesigns der Studie von Tang & Cheng, 2010).

 

Ergebnisse
Mit ja (Rollenkonflikte kommen vor) antworteten hier 17 von 25 Interviewpartner. Hierfür wurden auch diverse Beispiele angeführt, etwa:

 

  • „Einem Vertriebler sagen, was nicht geht und dann den Abschluss nicht bekommen.“
  • „Wie kann man Business Enabler sein und nicht Verhinderer?“
  • „Tätigkeit als Geldwäscheverhinderer und auch als Neukundenbearbeiter – es kann schon um Verdienen vs. Compliance gehen.“
  • „Ich mache keine interne Revision. Das führt u. U. zu Rollenkonflikten.“
  •  

Ein Interviewpartner meinte hier, dass es absolut unverständlich sei, „wie man Legal und Compliance zusammenführen kann“, das gehe nicht, beide Bereiche müssten ja ganz anders arbeiten. Diese bildeten zwar „Schwesterfunktionen“ ab, aber trennen müsse man sie schon.

Mit nein antworteten 5 von 25 Interviewpartner, für 3 Personen war dies eher unwahrscheinlich. Von den 5 „Neinstimmen“ war eine Person nicht als Compliance Officer, sondern als Berater im Bereich Sicherheit/Risikomanagement tätig. Insgesamt also hält die Mehrheit (16 Personen) der Befragten das Auftreten von Rollenkonflikte für wahrscheinlich bzw. hat dieses bereits selbst erlebt. Immerhin 4 Personen halten das Auftreten für möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich. Rollenkonflikte können sehr unterschiedlich ausfallen und sollten daher weiter kategorisiert werden (vgl. Neuberger, 2002; P = kommunizierende Person, hier mit eigenen Beispielen):

 

1 = Intra-Sender-Konflikt: P1: „Arbeite exakt im Compliance-Management und mache kein Geschäft unmöglich!“
2 = Inter-Sender-Konflikt: P1: „Sei hart!“ P2: „Sei nett!“
3 = Inter-Rollen-Konflikt: „Ich bin Polizist.“ „Ich bin Sozialarbeiter.“
4 = Person-Rollen-Konflikt (intraindividuell): „Ich bin ein ehrlicher Mensch.“ „Ich muss lügen.“
5 = Rollenambiguität (Rollenunklarheit, beispielsweise nicht vorhandene oder falsche Tätigkeitsbeschreibung)

 

Kategorisierungen der Rollenkonflikte mit Beispielaussagen
Hier werden einige Details zu den Zuordnungen gegeben, es sei angemerkt, dass „P“ hier auch für unterschiedliche Funktionseinheiten eines Unternehmens stehen kann.

 

1 = Intra-Sender-Konflikt: P1: „Arbeite exakt im Compliance-Management und mache kein Geschäft unmöglich!“

3 Aussagen ließen sich hier gut zuordnen, ein Beispiel: Dem Interviewpartner sei absolut unverständlich, wie man Legal und Compliance zusammenführen könne. Das gehe nicht, beide Bereiche müssten ja ganz anders arbeiten, dies seien zwar Schwesterfunktionen, aber trennen müsse man diese schon.

 

2 = Inter-Sender-Konflikt: P1: „Sei hart!“ P2: „Sei nett!“

2 Aussagen ließen sich hier zuordnen. Ein Beispiel: In Russland [der Interviewpartner war osteuropäischer Abstammung] beispielsweise sei es ja durchaus möglich, dass die eher westliche Kultur im Unternehmen gelebt werde und dann auch auf Mitarbeiter wirke [die Umwelt aber andere Werte vertrete]. Er selbst frage sich, ob die Person, die im Unternehmen ethisch vertretbar agiere, dies dann auch im privaten Umfeld tue, wie es dann also im Privaten weitergehe.

 

3 = Inter-Rollen-Konflikt: „Ich bin Polizist.“ „Ich bin Sozialarbeiter.“

7 Aussagen ließen sich hier zuordnen. Drei Beispiele hierzu:

1. Wenn Konflikte auftreten sei starker Rückenwind von Seiten der Führungskräfte notwendig, diese gäben hilfreiche Impulse. Selbst erlebter Rollenkonflikt: einmal als „Ermittler“ und gleichzeitig „Sozialarbeiter“ auftreten