1.11.2016 Arbeitspapiere

Prozessorientiertes Qualitätsmanagement nach DIN EN ISO 9001:2015

 


1 Prozessorientiertes Qualitätsmanagement


 

Die Qualitätsmanagement-Norm DIN EN ISO 9001:2015-11 will „die Umsetzung eines prozessorientierten Ansatzes bei der Entwicklung, Verwirklichung und Verbesserung der Wirksamkeit eines Qualitätsmanagementsystems“ fördern (ebd., Kap. 0.3). Dazu wird an verschiedenen Stellen erklärt, was unter Prozessen verstanden werden soll, wie sie zu lenken sind und was sie bewirken. Der Erklärungsbedarf wird für so groß eingeschätzt, dass den zahllosen und regelmäßig evidenten Prozessmodellen, die seit Jahrzehnten publiziert werden, ein weiteres hinzugefügt und sogar durch eine Skizze (vgl. ebd., Kap. 0.3.1, Bild 1) verdeutlicht wird. Bei näherer Betrachtung lassen sich jedoch zahlreiche Missverständlichkeiten, Fehler und Ungenauigkeiten erkennen, die bei dem Versuch einer praktischen Umsetzung zu erheblichen Problemen führen können. Dies wiederum kann dazu beitragen, dass Forderungen der Norm nur erfüllt werden, um eine Zertifizierung zu erhalten, während die gelebte Praxis nur begrenzt vom Qualitätsmanagement profitiert. Die nachfolgenden Analysen der mit dem Prozessmanagement im Zusammenhang stehenden Normforderungen sollen einen Beitrag dazu leisten, derartige Probleme zu minimieren.

 

Dazu soll das Prozessmanagement zunächst als solches kritisch beleuchtet werden. Dabei wird sich zeigen, dass es erstens in der Praxis eine deutlich geringere Bedeutung hat als die ISO 9001 unterstellt, dass es zweitens weder neu noch originell ist und dass es drittens überhaupt nur unter bestimmten Bedingungen positive Wirkungen entfaltet. Daran anschließend wird die spezielle Normforderung untersucht, zusätzlich zu den Prozessen auch deren Wechselwirkungen sowie die Wechselwirkungen zwischen den Elementen von Prozessen zu gestalten und zu lenken. In diesem Zusammenhang wird sich zeigen, dass dies nicht zu einem Prozessmanagement, sondern zu einem Netzwerkmanagement führt, für das es bis heute jedoch gar keine belastbaren Methoden und Werkzeuge gibt. Abschließend wird ein regelungstechnischer Ansatz herangezogen, um die Forderung der Norm nach einer Steuerung von Prozessen auf den Stand der Technik zu bringen.

 


2 Praktische Relevanz der Prozessorganisation


 

Dass eine radikale Neuausrichtung von Unternehmen an Geschäftsprozessen zu einer dramatischen Verbesserung wesentlicher Kennzahlen wie Kosten, Qualität, Service und Durchlaufzeit führt, versprachen Hammer und Champy (1995) schon in den 1990er Jahren. Organisatorisch zusammenhängende Aufgaben sollen nicht mehr funktional strukturiert, sondern ihrem Ablauf folgend auf Kunden ausgerichtet werden. Dies soll einhergehen mit einer Konzentration auf die Kernkompetenzen und mit einer konsequenten Nutzung der verfügbaren Datenverarbeitungs- und Kommunikationstechnik (ebd.). Die ISO 9001 macht sich diese Behauptung zu eigen, indem sie den Zweck der von ihr geförderten Prozessorientierung mit einer Erhöhung der Kundenzufriedenheit durch Erfüllen der Kundenanforderungen beschreibt und behauptet, das Verstehen und Steuern zusammenhängender Prozesse trage „zur Wirksamkeit und Effizienz einer Organisation beim Erreichen ihrer beabsichtigten Ergebnisse bei“ und verbessere ihrer Gesamtleistung (ebd., Kap. 0.3).

 

Immerhin ist das Prozessmanagement in der fachöffentlichen Diskussion noch immer aktuell, während viele andere Management-Konzepte wie z. B. die Fraktale Fabrik (Warnecke 1992) oder das Agile Manufacturing (Karwowski/Kidd 1994), die in der gleichen Zeit propagiert wurden, zwischenzeitig wieder in Vergessenheit geraten sind. Knuppertz und Feddern (2011, Seite V) verbinden mit dem Prozessmanagement sogar eine geradezu epochale Entwicklung, für Wagner und Patzak (2007) ist das Führen von Unternehmen ohne Prozessmanagement gar nicht mehr vorstellbar und Nans (2012) behauptet, Business Prozess Management bzw. Geschäftsprozessmanagement sei heute fester Bestandteil im Arbeitsalltag der meisten Unternehmen und Organisationen.

 

Eine aktuelle empirische Studie (Minonne et al. 2011) kommt allerdings zu einem anderen Ergebnis: Danach geben knapp zwei Drittel aller befragten Unternehmen an, dass bisher nicht viel mehr als ein allgemeines Bewusstsein für das Prozessmanagement vorhanden sei und dass allenfalls einzelne Aspekte dieses Ansatzes thematisiert wurden. Nur ein Drittel der Unternehmen gab an, bestimmte Prozessmanagement-Methoden bereits eingeführt zu haben, und nur in etwa 7 % der untersuchten Unternehmen ließ sich eine konsequente Umsetzung des Prozessmanagements feststellen. Aus diesen Erkenntnissen wird jedoch nicht etwa die Schlussfolgerung abgeleitet, dass der Grund für den geringen Verbreitungsgrad in einer begrenzten Eignung des Organisationskonzepts liegen könnte. Stattdessen wird empfohlen, bessere Aufklärungsarbeit zu leisten (Minonne et al. 2012).

 

Auch Gaitanides, der als einer der wissenschaftlichen Vordenker des Prozessmanagements gilt und dieses Konzept bereits ein Jahrzehnt früher publizierte als Hammer und Champy (2012), beobachtet einen außerordentlich großen Verbreitungsgrad der Annahme einer Vorteilhaftigkeit des Prozessmanagements: in nahezu allen Unternehmen, aber auch in Bezirksämtern, Finanzämtern und Krankenhäusern seien diesbezügliche Projekte durchgeführt worden. Selbst Lehrpläne für die Berufsausbildung würden inzwischen darauf aufbauen (Gaitanides 2007, S. 2 f.). Im Übrigen zeigt sich Gaitanides von der Rezeption seines Ansatzes jedoch enttäuscht:

 

  • Berater würden unter Berufung auf Einzelfälle mit plakativen Aufrufen wie ‚von erstarrten Strukturen zu fließenden Prozessen‘ lediglich normative Aussagen machen, ohne Erklärungen und operationale Gestaltungsempfehlungen zu liefern. Hinweise wie 'durch die hohe Geschwindigkeit sind Kosten und Verfügbarkeit positiv zu beeinflussen und gleichzeitig laufend das Verhältnis zwischen Leistung (Output) und Kosten (Input) zu verbessern' seien zwar kaum zu widerlegen, würden aber niemanden weiterhelfen. Praxisnähe und Relevanz drücke sich in der Beratersprache vor allem in anekdotischer Evidenz aus (ebd.).
  • Ingenieuren, die sich mit dem Prozessmanagement befassen, hält er ein mechanistisches Organisationsverständnis vor. Im Sinne eines informationstechnischen Taylorismus würden sie Prozesse am Reißbrett entwerfen und in Workflowsystemen zementieren, ohne dem sozialen Charakter von Unternehmen Rechnung zu tragen. Immerhin sei diesem Ansatz je-doch ein gewisser Erfolg nicht abzusprechen (ebd.).
  • Schließlich würde die Betriebswirtschaft das Prozessmanagement schlicht ignorieren. Ein Einbau dieses Ansatzes in das Theoriegebäude der Organisationsforschung würde nahezu vollständig fehlen. Allerdings führt Gaitanides dies nicht etwa auf eine begrenzte Relevanz des Ansatzes zurück, die er im Gegenteil für evident hält. Stattdessen unterstellt er ein mangelndes Bewusstsein bei den Betriebswirten und tritt an, entsprechende Aufklärungsarbeit zu leisten (ebd.).

Die Unerschütterlichkeit des Glaubens an die Überlegenheit der Prozessorganisation ist bei Beratern nicht zu beanstanden, denn darauf basiert deren Geschäftsmodell. Bei Gaitanides wirft sie insofern Fragen auf, als er selbst Ansatzpunkte liefert, die eigentlich eine differenziertere Einordnung erlauben. Dies soll im Folgenden anhand von zwei Erklärungs- und Begründungsansätzen gezeigt werden.

 


2.1 Abgrenzung gegenüber der Ablauforganisation


 

Die Herleitung des Prozessansatzes beginnt üblicherweise bei der von Nordsieck (1931) und Kosiol (1934) in der 1930er Jahren erstmals vorgeschlagenen Trennung der Organisation in Aufbau und Ablauf. Gaitanides (2007, S. 7) räumt ein, dass Nordsieck bereits zu jener Zeit wesentliche Aspekte des Prozessmanagements im Zusammenhang mit der Ablauforganisation erfasst hat. Die Gliederung der Betriebsaufgabe habe danach dem Betriebsprozess zu folgen; dieser sei in Wirklichkeit ein fortwährender Prozess, eine Leistungskette: 'Die wirkliche Struktur des Betriebes ist die eines Stromes' (Nordsieck 1931). Dies habe u. a. den Zweck, den Mitarbeitern die Funktionalität von Teilaufgaben für das Betriebsziel bewusst zu machen (Nordsieck 1972).

 

Durch das Prozessgliederungsprinzip werde also schon nach den Vorschlägen von Nordsieck nicht nur die Aufbauorganisation an zweckgerichteten Prozessabläufen ausgerichtet. Es betreffe ferner auch die Ablauforganisation, indem die unmittelbare Aufeinanderfolge der einzelnen Arbeitsleistungen strukturell 'präjudiziert' (ebd.) werde (Gaitanides 2007, S. 12). Daher sei auch die Abfolge von Arbeitsleistungen implizit prozessorientiert angelegt. Die Steuerung der Arbeitsoperationen habe sich im Rahmen der Prozessabläufe zu bewegen.

Grundsätzlich sind also wesentliche Prinzipien der Prozessorganisation schon seit den 1930er Jahren bekannt. Dazu gehört neben der ablauforientierten Organisation auch die Orientierung am Kundennutzen, wenn man diesen als ein Betriebsziel auffasst. Daher stellt sich die Frage, wie neu und originell das Konzept der Prozessorganisation tatsächlich ist.
Üblicherweise wird die Originalität mit zwei Argumenten begründet:

 

  • Erstens habe man sich in der Praxis bisher zu sehr auf die Aufbauorganisation konzentriert, auf dieser Basis zunächst funktional orientierte Strukturen geschaffen und die Abläufe dann darauf ausgerichtet. Das Prozesskonzept befreie nun den ablauforganisatorischen Konstruktionsvorgang von der Prämisse gegebener Stellenaufgaben. Das bedeute, dass Arbeitsgänge und Arbeigsgangfolgen unabhängig von dem aufbauorganisatorischen Kontext entworfen und Stellen erst auf der Basis integrierter Verrichtungskomplexe zu bilden seien. Anstelle der Logik 'Ablauforganisation folgt Aufbauorganisation' gelte nun: 'Aufbauorganisation folgt Ablauforganisation' (Gaitanides 2007).
  • Zweitens sei die klassische Organisation auf unternehmensinterne Strukturen und Prozesse beschränkt gewesen, während das Prozessmanagement im Sinne des Supply Chain Managements über die Unternehmensgrenzen hinaus weise und die gesamte Wertschöpfungskette, beginnend beim Rohstofflieferanten bis zum Endkunden, einbeziehe.

Fraglich ist allerdings, ob das reicht, um einen wirklich neuen Ansatz zu begründen. Immerhin handelt es sich beim erstgenannten Argument lediglich um eine Schwerpunktverschiebung, um eine etwas andere Betonung der beiden Teilaspekte des zugrunde liegenden Konzepts, und beim zweitgenannten Argument geht es nur um eine Weiterentwicklung im Lichte veränderter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, insbesondere der Internationalisierung der Wirtschaft. Wollte man spekulieren, so könnte man zu der Vermutung gelangen, dass sowohl die große Zahl der Unternehmen, die bisher von einer konsequenten Umsetzung des Prozessmanagements abgesehen haben (Minonne 2011), als auch die betriebswissenschaftliche Forschung, die bisher auf einen Einbau dieses Ansatzes in das Theoriegebäude der Organisationsforschung verzichtet hat (Gaitanides 2007), damit einen zu geringen Innovationsgrad verbinden, als dass sie bereits eingeführte und bewährte Organisationsformen dafür über Bord werfen würden. Die Ziele des Prozessmanagements lassen sich wohl auch erreichen, wenn man die dazu erforderlichen Maßnahmen an der Ablauforganisation ausrichtet.

 


2.2 Abgrenzung gegenüber anderen Organisationsformen


 

Die zweite Abgrenzung soll herangezogen werden, um die Vorteilhaftigkeit der Prozessorganisation im Vergleich zu anderen Organisationsformen beurteilen zu können. Die Notwendig-keit dieser Betrachtung ergibt sich aus der Feststellung, dass die Prozessorganisation von ihren Protagonisten in der Regel als alternativlos dargestellt wird (Knuppertz/Feddern 2011; Nanz 2012; Wagner/Patzak 2007).

 

Gaitanides (2007, S. 72 ff.) stellt dazu differenziertere Überlegungen an. Dabei bezieht er sich auf die Neue Institutionenökonomik und in diesem Kontext insbesondere auf die Transaktionskostentheorie. Grundsätzlich handelt es sich dabei bekanntlich um einen volkswirtschaftlicher Ansatz, doch Gaitanides gelingt es, u. a. unter Verweis auf Williamson (1991, S. 238) zu zeigen, dass ihre Anwendung auf betriebswirtschaftliche Fragestellungen in diesem Fall möglich und weiterführend ist.

 

Die Transaktionskostenökonomik zeigt anhand der Kombination von Faktoren wie

 

  • Spezifität der Leistung
  • Unsicherheit und
  • Häufigkeit der Transaktion

welche Koordinationsform am vorteilhaftesten ist. Als Reinformen der Koordination stehen der Marktmechanismus und die Zentralverwaltungswirtschaft einander gegenüber (Abbildung 1).

Je spezifischer und je unsicherer die Bedingungen einer Leistungserstellung sind, desto effizienter sind zentralverwaltungswirtschaftliche gegenüber marktlichen Koordinationsformen im Hinblick auf die Summe aus Transaktions- und Produktionskosten. Spezifität und Unsicherheit von Transaktionsbeziehungen erhöhen die Bedeutung der organisatorischen Integration eines Transaktionspartners, denn dadurch wird die Stabilität der Beziehung gefördert und die Opportunitätsgefahr verringert. „Die transaktionsspezifischen Investitionen unterliegen einem geringeren Amortisationsrisiko, da mit der Kumulation der Transaktionsvolumina die Transaktionskosten gesenkt und Skalenerträge realisiert werden. Hohe Umweltsicherheit kann durch schnelle zweiseitige Anpassungsmöglichkeiten kompensiert werden. Im Extremfall ist die vollständige Integration, d. h. die Selbsterstellung, zur Sicherung der strategischen Rente aus den Investitionen geboten. Effizienz mindernd wirken sich hingegen die höheren Produktionskosten aus, da die Anreizwirkungen des Preismechanismus nicht zur Entfaltung kommen können“ (Gaitanides 2007).

 

Wenn umgekehrt die Transaktionsobjekte standardisiert sind und wenn die Transaktionen häufig stattfinden, stellt der Markt die effizientere Koordinationsform dar. Käufer können zwischen alternativen Angeboten wählen und die Transaktionspartner wechseln, falls Anpassungen notwendig sind. Unsicherheiten können durch flexible einseitige Anpassung reduziert werden. „Opportunismus zwingt den Lieferanten zur effizienten Leistungserstellung. Der liefernde Transaktionspartner kann Skalenerträge realisieren, die im Falle der Eigenerstellung beim abnehmenden Transaktionspartner nicht erzielbar sind. Dem Lieferanten muss es allerdings gelingen, sich auf die von ihm erbrachte (standardisierte) Leistung zu spezialisieren, mehrere Transaktionspartner zu beliefern und dadurch Nachfrage zu aggregieren. Der Marktmechanismus liefert die notwendigen Anreize für einen effizienten Leistungsaustausch. Die ex post Transaktionskosten sind niedrig. Allenfalls entstehen hohe ex ante Transaktionskosten, da Kosten für Informationssuche und Entscheidung bei der Wahl eines geeigneten Transaktionspartners anfallen“ (Gaitanides 2007).

 

Was Protagonisten des Prozessmanagements oft übersehen ist, dass es in der Praxis trotz veränderter Wirtschaftslage Faktorkombinationen gibt, die in der gerade dargestellten Weise ausgeprägt sind und dann nahelegen, die dazu jeweils passende Organisationsform zu wählen. Weiterhin scheint es nach Gaitanides nur eine hybride Organisationsform zu geben – das Prozessmanagement, während Theorie und Praxis tatsächlich eine Vielzahl hybrider Organisationsformen kennen (siehe Abbildung 1). Hinweise darauf, dass und wie vor der Einführung einer Prozessorganisation geprüft werden muss, ob diese auf Grund einer entsprechenden Faktorkombination überhaupt vorteilhaft ist, sind auch bei intensivem Literaturstudium nicht auffindbar.

 

Tatsächlich sind hybride Koordinationsformen (Abbildung 1) wie die Prozessorganisation also nur bei bestimmten Faktorkombinationen effizient. Williamson (1991) erklärt Kostenverläufe alternativer Konzepte, etwas anders als Gaitanides (Gaitanides 2007), aus:

 

  • der Anreizintensität
  • dem Einsatz von Kontrollmechanismen
  • der Anpassungsfähigkeit sowie
  • den Kosten der Etablierung und Nutzung des Koordinationssystems

Die Spezifitätsgrade dieser Faktoren markieren die Übergänge der Vorteilhaftigkeit einzelner Koordinationsformen. Trotz Anstieg der Koordinationskosten bei zunehmender Internalisierung der Austauschprozesse ist die relative Zunahme der Transaktionskosten zunächst bei hybrider, dann bei zentralverwaltungswirtschaftlicher Integration auf Grund der Opportunitätsgefahr geringer als bei externalisierter, über den Marktmechanismus geregelter Austauschbeziehungen (siehe Abbildung 1). Aus der Transaktionskostentheorie folgt damit, „dass diejenige Koordinationsform zu wählen ist, die angesichts der Kontingenzen, insbesondere des Standardisierungsgrades der Produktions- und Austauschmodalitäten, die hinsichtlich Produktions- und Transaktionskosten kostengünstigste Alternative darstellt“ (Gaitanides 2007).


Angesichts der Forderung der ISO 9001 nach einem Prozessmanagement sind alle Unternehmen, die angesichts der für sie relevanten Faktorkombinationen andere Organisationsformen benötigen, gezwungen, entweder auf die für sie suboptimale Organisationsform des Prozessmanagements umzustellen oder die Umsetzung des Prozessmanagements vorzutäuschen, um ihre Zertifizierung nicht zu gefährden. In solchen Fällen trägt die ISO 9001 nicht, wie behauptet, „zur Wirksamkeit und Effizienz einer Organisation beim Erreichen ihrer beabsichtigten Ergebnisse“ und zur verbessere ihrer Gesamtleistung bei (DIN EN ISO 9001:2015-11, Kap. 0.3), sondern bewirkt das Gegenteil.

 


3 Prozesse und ihre Wechselwirkungen


 

Nachdem nun widerlegt ist, dass ein Prozessmanagement pauschal immer Vorteile bietet und daher also nicht von jedem Unternehmen, das sein Qualitätsmanagement nach ISO 9001 zertifizieren lassen möchte, gefordert werden darf, soll im Folgenden die Forderung der Norm untersucht werden, nicht nur Prozesse, sondern auch deren Wechselwirkungen zu gestalten und zu lenken (DIN EN ISO 9001:2015-11, Kap. 4.1.1). Prozesse werden üblicherweise und auch nach den Erläuterungen der Norm als Abfolge von Tätigkeiten verstanden (vgl. ebd., Kap. 0.3.1), und Wechselwirkungen bezeichnen mindestens bidirektionale Beeinflussungen. Unklar ist jedoch, welche Wechselwirkungen in der Norm gemeint sind. So beziehen sich diese im Zusammenhang mit der Erläuterung der schematischen Darstellung der Elemente eines Einzelprozesses (Abbildung 2) auf die Wirkungen der Elemente von Prozessen aufeinander, also beispielsweise auf die gegenseitige Beeinflussung von Eingaben und Tätigkeiten oder von Tätigkeiten und ihren Ergebnissen. In Kapitel 4.4.1 bezieht sich die Forderung, zusätzlich zu Prozessen auch Wechselwirkungen zu gestalten und zu lenken, jedoch nicht auf die Wechselwirkungen zwischen den Elementen eines Prozesses, sondern auf die Wechselwirkungen zwischen Prozessen.

 

Verstärkt wird die damit verbundene Unschärfe noch dadurch, dass die Wirkrichtung von Prozessen normalerweise als vorwiegend monodirektional angenommen wird, während Rückbezüge die Ausnahme bilden. Eine Wechselwirkung beschreibt allerdings eine gegenseitige Beeinflussung, also auch eine regelmäßige Rückwirkung; Tätigkeiten würden dann nicht nur zu Ergebnissen führen, sondern auch auf die Eingaben einwirken. Ob das in der Norm tatsächlich so gemeint ist, bleibt insofern offen, als in der entsprechenden Abbildung zwischen den Elementen keine Verbindungen dargestellt sind (siehe Abbildung 2). Die Form des Pfeils, mit welchem die Tätigkeiten symbolisiert werden, spricht jedoch für die Annahme, dass tatsächlich die auch sonst übliche Annahme einer vorwiegend monodirektionalen Wirkrichtung gemeint ist. Von einer Wechselwirkung zwischen den Elementen eines Prozesses zu sprechen ist nach dieser Interpretation jedoch falsch.

 

Was bleibt, sind also Wechselwirkungen zwischen Prozessen. Solche Wechselwirkungen widersprechen dem Prozessgedanken allerdings insoweit, als dieser einen möglichst schnittstellenarmen Arbeitsablauf anstrebt. Dies wird oft mit der Metapher des Fließens erklärt (vgl. z. B. Klaas 2002, S. 43), und Flüsse wie der Rhein können zwar Abzweigungen und Zusammenschlüsse haben, sind im Kern jedoch durch einen Hauptstrom mit einer definierten Fließrichtung charakterisiert, und Wasser, das sich selbst überlassen ist, sucht sich bekanntlich den kürzesten Weg. Analog dazu können auch Geschäftsprozesse additive (UND-Verknüpfung) und/oder alternative (ODER-Verknüpfung) Arbeitsfolgen beinhalten, werden in der Hauptsache aber ebenfalls eine Hauptfolge aufweisen und Schnittstellen nach Möglichkeit vermeiden müssen, wenn sie effizient und effektiv sein sollen in dem Sinne, wie sich Wasser den einen, nämlich den kürzesten Weg sucht.

 

Wechselwirkungen zwischen Prozessen haben dagegen die Tendenz, nicht zu Prozessen im intendierten Sinne zu führen, sondern zu Netzwerken. Dagegen ist grundsätzlich auch gar nichts einzuwenden, denn wie Corsten und Gössinger (2008) unter Bezugnahme auf zahlreiche wissenschaftliche Ansätze erklären, stellen Netzwerke die natürliche Form von Beziehungen zwischen Personen und Organisationen dar. Im Unterschied dazu sind Prozesse oft sehr weit gehende Vereinfachungen natürlicher Vorgänge und insoweit eine Sonderform, eine kleine Untermenge von Netzwerken. Vor diesem Hintergrund wäre es konsequent, nicht mehr ein Prozessmanagement, sondern ein Netzwerkmanagement zu fordern.

Wissenschaftlich werden solche Beziehungsgeflechte beispielsweise auf der Basis der Systemtheorie untersucht, die formale Ordnungsmittel bereitstellt, mit deren Hilfe man den Aufbau und das Verhalten komplexer Objekte in beliebigen Wirklichkeitsbereichen zusammenhängend verstehen und in einer einheitlichen Sprache beschreiben kann (Ropohl 1979). Allerdings bedarf es zusätzlicher Perspektiven, da die Systemtheorie den Charakter der Beziehungen (Relationen) zwischen Elementen nicht hinterfragt. Dieser ist z. B. in technischen Systemen ein anderer als in sozialen oder biologischen Systemen. Daher werden im Rahmen der Netzwerkforschung u. a. Ansätze der Neuen Institutionenökonomik und hier insbesondere der Transaktionskostentheorie herangezogen (Corsten/Gössinger 2008), so dass sie auf der gleichen wissenschaftlichen Grundlage steht wie die Forschung von Gaitanides zur Prozessorganisation (Gaitanides 2007).

 

Allerdings beschränken Corsten und Gössinger die Anwendbarkeit des Netzwerkbegriffs auf rechtlich und wirtschaftlich selbstständige Kooperationspartner und schließen damit eine Anwendung auf innerbetriebliche Arrangements aus (Corsten/Gössinger 2008). Auf dieser Grundlage ließe sich lediglich das Supply Chain Management als eine der möglichen Ausprägungen des Prozessmanagements erfassen, so dass für das innerbetriebliche Prozessmanagement eine andere Grundlage herangezogen werden müsste. Doch das ist nicht notwendig, denn tatsächlich lässt sich der Netzwerkbegriff durchaus auf innerbetriebliche Arrangements anwenden. Dies soll anhand der wesentlichen Merkmale von Netzwerken gezeigt werden, die Corsten und Gössinger unter Bezugnahme auf Fischer (1983) aufführen (Corsten/Gössinger 2008).

 

Die meisten der einzeln aufgeführten Merkmale sollen zum Ausdruck bringen, dass die zu koordinierenden Einheiten autonom sind. Ganz unmittelbar gilt dies für die rechtliche und wirtschaftliche Selbstständigkeit der Kooperationspartner, für die Freiwilligkeit der Zusammenarbeit und für das Zustandekommen dieser Zusammenarbeit auf der Grundlage von Vereinbarungen. Damit verbunden ist die Annahme, dass innerbetriebliche Einheiten nicht autonom sind. Diese Annahme lässt sich aber nur halten, wenn man ausschließlich die formale Organisation zugrunde legt. Danach geben abhängig Beschäftigte ihre Autonomie tatsächlich auf und unterwerfen sich qua Arbeitsvertrag dem Direktionsrecht der Unternehmensführung. Tatsächlich existiert neben der formalen jedoch stets auch eine informelle Organisation, und ihr wird ein erheblicher Einfluss auf das Betriebsgeschehen eingeräumt (Ahrens 1996a; Küpper/Ortmann 1992; Neuberger 1995). Gerade das liefert den Protagonisten des Prozessmanagements ja eines der wichtigsten Argumente für die Einführung dieser Organisationsform. Und mit der Empfehlung, die Prozessorganisation mit der Übertragung von Aufgaben an selbstständig agierende und ergebnisverantwortliche Teams zu verbinden (Gaitanides 2007), ist die Forderung verbunden, die bisher nur informelle Autonomie auch formal zu legitimieren.

 

Die weiteren Merkmale beziehen sich auf die Notwendigkeit einer zielgerichteten Koordination, die bei autonomen Einheiten anders erfolgen muss als bei weisungsgebundenen Einheiten. Dies gilt insbesondere für das Merkmal der Freiwilligkeit der Zusammenarbeit, die zwar auch bei abhängig Beschäftigten unterstellt wird, da sie ihre Arbeitsverträge üblicherweise nicht unter Zwang unterschreiben, die in der Folge jedoch formal nicht mehr frei sind, Anweisungen der Obrigkeit zu befolgen oder nicht. Wenn man abhängig Beschäftigten aber auf der informellen Ebene Macht zuerkennt, sich der Obrigkeit erfolgreich zu widersetzen, wird man Freiwilligkeit trotz formaler Weisungsbefugnis immer wieder neu generieren müssen. Motivierungsprogramme, insbesondere sog. Zielvereinbarungsprogramme, sind trotz ihrer nachgewiesenen Unwirksamkeit (Meyer 1994; Springer 1995) ein klassisches Beispiel dafür, wie versucht wird, dies zu leisten.

 

Vor diesem Hintergrund lässt sich feststellen, dass Netzwerke nicht nur überbetrieblich, sondern auch innerbetrieblich die natürliche Form der Relationierung von Elementen eines Systems und zwischen Systemen sind. Dabei gibt es unterschiedlichste Ausprägungen von Netzwerken (Corsten/Gössinger 2008), die hier nicht alle thematisiert werden können. Daher soll für die folgenden Überlegungen nur eine Ausprägung herangezogen werden, die sowohl in Unternehmensnetzwerken als auch in innerbetrieblichen Netzwerken häufig anzutreffen ist.

So kann es aus Sicht des betrachteten Unternehmens sowohl auf Lieferantenseite als auch auf Kundenseite mehrstufige Verflechtungen gibt. Solche Verflechtungen können schnell sehr komplex werden: Lieferanten können zugleich Wettbewerber und indirekt sogar Kunden werden, Kunden wiederum werden zu Lieferanten, Lieferanten beliefern sich gegenseitig usw. Nahezu beliebig viele Kombinationen sind vorstellbar und in der Realität wohl auch anzutreffen.

 

Dem stehen üblicherweise Prozessmodelle wie das in Abbildung 3 dargestellte gegenüber. In der skizzierten Ausprägung werden diejenigen Prozesse, deren Ergebnisse zu einem Wettbewerbsvorteil führen, als Wertschöpfungsprozesse oder Kernprozesse bezeichnet (Gaitanides 2007). Den Unterschied zwischen Kernprozessen und Supportprozessen erklärt Gaitanides unter Bezugnahme auf Osterloh und Frost (2003) damit, dass erstere „keine unmittelbar strategische Aufgabe erfüllen und keinen direkten Beitrag zum Kundennutzen liefern“ (Gaitanides 2007). Während Buchenau (2010) und viele andere Autoren darüber hinaus Führungsprozesse vorsehen, klassifiziert Gaitanides die Geschäftsleitung als Supportprozess. Dass dies jedoch kaum haltbar ist, lässt sich daraus ableiten, dass er an anderer Stelle erklärt, Supportprozesse seien prinzipiell Kandidaten für ein Outsourcing. Dies würde auf die Empfehlung hinauslaufen, die Geschäftsleitung aus prozessorientiert organisierten Unternehmen auszugliedern. Dass dies nicht ernst gemeint sein kann, ist evident. Insofern ist eine separate Ausweisung von Führungsprozessen in Prozessmodellen wohl praxisrelevanter.

Obwohl Gaitanides solche Modelle selbst verwendet, kritisiert er sie als Blaupausen, die das Bild einer durchgestylten Organisation liefern und Aufgabenfolgen festlegen, die dann in Workflowsystemen zementiert würden (Gaitanides 2007). Die Kritik richtet sich im Kern offensichtlich darauf, dass die Modelle nicht differenziert genug alle wesentlichen Aspekte der Realität abbilden. Im Hinblick auf die folgende Argumentation kann man dies auch als Komplexitätsdefizit bezeichnen.

 

Ein solches Komplexitätsdefizit lässt sich auch aus kybernetischer Sicht identifizieren, denn die Verwendung von derart trivialen Modellen verletzt das „law of requisite variety“ (Ashby 1958). Dieses Gesetz fordert, dass ein System, das seine Existenz in seiner Umwelt nach eigener Zielvorstellung langfristig sichern will, stets über mindestens das gleiche Maß an Komplexität verfügen muss wie seine Umwelt. Zwar ist ein Komplexitätsgefälle prinzipiell nicht zu vermeiden, da z. B. die Binnenkomplexität Kapazität bindet, die zur Bewältigung der Umweltkomplexität nicht zur Verfügung steht (Ahrens 1996b). Daraus folgt die Notwendigkeit zur Selektion von Strategien zur Kompensation des Komplexitätsdefizits (Luhmann 1986), was wiederum zum Varietäts-Selektions-Dilemma führt (Keuper 2005). Verkürzend kann man sagen, dass die Organisation auf der Basis vereinfachender Modelle durchaus zum Repertoire möglicher Strategien zur Kompensation von Komplexitätsdefiziten gehört. Doch im Sinne Albert Einsteins, der einmal geraten haben soll, alles so einfach wie möglich zu machen – jedoch nicht einfacher, kann eine zu weit gehende Vereinfachung, eine Trivialisierung, ins Gegenteil umschlagen und sogar pathologisch sein.

 

Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass die Reduzierung des Netzwerkmanagements (Corsten/Gössinger 2008) auf den Sonderfall des Prozessmanagements (Gaitanides 2007) in realen Umweltsituationen eine zu weit gehende Vereinfachung darstellt, weil sich die ebenfalls zu beherrschenden Querbezüge, Rekursionen und Mehrfachrollen nicht in der gleichen Weise abbilden lassen wie dies in Netzwerken möglich ist.