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ARBEITSPAPIERE DER NORDAKADEMIE ISSN 1860-0360 Nr. 2017-01 | Prof. Dr.-Ing. Volker Ahrens | Wirtschaftsingenieure sind in der Praxis erfolgreich, leisten jedoch aus ihrem Kerngebiet der Integration von Ökonomie und Technologie heraus keine signifikanten Beiträge zum wissenschaftlichen Fortschritt. Angesichts dieser Beobachtung verfolgt die Deutsche Akademie für Technikwissenschaften das Ziel, eine neue Forschungsdisziplin zu gründen, die sich aus einer wissenschaftlich fundierten Vernetzung ökonomischer und technologischer Aspekte in den Integrationsgebieten des Wirtschaftsingenieurwesens speist. Als Grundlage einer solchen Vernetzung der Einzeldisziplinen schlägt der vorliegende Beitrag die Systemtheorie vor und begründet dies.

Geschrieben von katharina.petersen | Dec 1, 2017 1:23:00 PM

1 Anlass

Wirtschaftsingenieure verstehen sich als Generalisten im Wirkungsverbund zwischen technologischem Fortschritt, wirtschaftlichem Wachstum und gesellschaftlichem Wandel (Müller Merbach 1988, 6 ff.; Brettel et al. 2012/2014, 17). Folgt man der Berufsbilduntersuchung des Verbands Deutscher Wirtschaftsingenieure (VWI), so gehört das Wirtschaftsingenieurwesen zu den fünf stärksten Studiengängen Deutschlands (Baumgarten et al. 2015, 17). Grund dafür ist ein überdurchschnittlicher Erfolg von Wirtschaftsingenieuren in der Praxis: 97 % dieser Berufsgruppe sind in Vollzeitstellen beschäftigt, 80 % davon unbefristet. Einstiegsgehälter bewegen sich zwischen 45.000 und 58.000 Euro (ebd., 22).

Dazu steht die Stellung des Wirtschaftsingenieurwesens in der Scientific Community in deutlichem Gegensatz. So kommt eine Studie der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften (acatech) zu dem Ergebnis, dass die beiden Kernbereiche Ökonomie und Technologie in der Forschung noch unvernetzt nebeneinanderstehen und dass eine wissenschaftliche Verankerung ihrer Vernetzung fehlt. Der Interdisziplinarität, die als profilbildendes Herzstück des Wirt-schaftsingenieurwesens gilt (Brettel et al. 2012/2014, 29), „fehlt somit eine eigenständige wis-senschaftliche und methodische Fundierung“ (Schuh/Warschat 2013, 7). Angesichts dieser Situation sollen die nachfolgenden Überlegungen einen Beitrag zu dem erklärten Ziel der Akade-mie leisten, „den Grundstein einer neuen Forschungsdisziplin“ (ebd.) zu legen.

 

Dazu wird das Wirtschaftsingenieurwesen in Abbildung 1 in einen Bezugsrahmen gestellt, der auf der horizontalen Achse eine Einordnung in den erkenntnistheoretischen Kontext und auf der vertikalen Achse eine Verortung zwischen Theorie (Abstraktion) und Praxis (Konkretisierung) erlaubt. Daran wird in Kapitel 2 zunächst noch einmal die schon eingangs herausgestellte Anbindung an die berufliche Praxis (1) vertieft, um zu zeigen, dass die darin deutlich erkennbare Stärke im Hinblick auf spezifische Beiträge zum wissenschaftlichen Fortschritt zugleich eine Schwäche darstellt. Dies wird in Kapitel 3 auch daran deutlich gemacht, dass sich das Wirtschaftsingenieurwesen zwar der Erkenntnisse der Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften bedient (2), ohne jedoch durch eine wissenschaftlich verankerte Vernetzung (3) zu deren Wei-terentwicklung beizutragen (4). Schließlich soll ab Kapitel 4 anhand des Bezugsrahmens ein Vorschlag für eine „eigenständige wissenschaftliche und methodische Fundierung“ (Schuh/ Warschat 2013, 7) formuliert und begründet werden (5).

2 Positionierung zwischen Theorie und Praxis

Der eingangs schon herausgestellte Erfolg von Wirtschaftsingenieuren am Arbeitsmarkt kommt nicht von ungefähr. Die Ausrichtung entsprechender Studiengänge auf die berufliche Praxis (1) ist erklärtes Ziel und insoweit auch nicht zu beanstanden. So betont zum Beispiel der Qualifi-kationsrahmen, dass Absolventinnen und Absolventen in der Lage sein sollen, „Entwicklungen in Technologie und Management zu erkennen, daraus neue Geschäftsideen zu entwickeln und diese umzusetzen“ (Brettel et al. 2012/2014, 15). Und auch nach der acatech-Studie stehen die Vermarktung von Technik und damit auch deren marktgerechte Gestaltung im Fokus (Schuh/ Warschat 2013, 10).

 

Unterstrichen wird die Betonung der praktischen Ausrichtung weiterhin dadurch, dass sich der Qualifikationsrahmen für das Wirtschaftsingenieurwesen (Brettel et al. 2012/2014, 15) auf eine Handreichung der Kultusministerkonferenz für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnun-gen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe (2011, 15) bezieht, nach der eine entspre-chende Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz dazu befähigen soll, „sich in beruflichen, ge-sellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten“. Eine solche Orientierung einer akademischen Ausbildung an nichtakademischen Berufsanforderungen entspricht insoweit dem Deutschen Qualifikations-rahmen für lebenslanges Lernen (DQR), als dieser die beiden Ausbildungswege zwar nicht als gleichartig, aber explizit als gleichwertig einstuft (AK-DQR 2011, 5).

 

Selbst im Hinblick auf eine ausgeprägtere Forschungsorientierung des Wirtschaftsingenieur-wesens schlägt die acatech-Studie eine „Symbiose aus praxisorientierten Fragestellungen mit theoretisch fundierter Methodik“ vor (Schuh/Warschat 2013, 13). Ein fortwährendes Verweilen an der Schnittstelle zwischen Wirtschaftsingenieurwesen und Praxis (1) führt jedoch immer wieder zu dem, was bereits gut ausgeprägt ist: zu einer guten Praxisorientierung. Eine stärkere Forschungsorientierung wird dagegen nur in der entgegengesetzten Richtung zu finden sein: durch Abstraktion (Abbildung 1), denn was ja fehlt ist eine wissenschaftliche Fundierung (5) der Vernetzung (3) von Ökonomie und Technologie, die spezifische Beiträge zur Weiterentwicklung dieser Disziplinen liefert (4), was dann natürlich auch wieder praktisch umzusetzen sein wird (1).


Ziel ist, dass das Wirtschaftsingenieurwesen in beide Richtungen wirkt und sich nicht darauf beschränkt, ingenieur- und wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse lediglich zu konsumieren (2) und zur praktischen Anwendung zu bringen (1). Das würde lediglich Bachelorabschlüsse rechtfertigen; Von Absolventinnen und Absolventen mit Masterabschluss oder gar Doktortitel sind dagegen Beiträge zu erwarten (3), die auch wissenschaftlich relevant sind (4) (Ahrens 2014a, 64).

3 Vernetzung von Ökonomie und Technologie

Eine zweite Ursache für das Fehlen einer spezifischen Forschungsausrichtung des Wirtschaft-singenieurwesens ist der Mangel an einer wissenschaftlichen Fundierung der Vernetzung von Ökonomie und Technologie (Schuh/Warschat 2013, 7). Das zeigt die Studie selbst, wenn sie zum Beispiel erklärt, dass Wirtschaftsingenieure „sich je nach Bedarf sowohl in wirtschaftliche als auch technische Details einarbeiten können und vor allem Themen bearbeiten, die beide Gebiete in Verbindung notwendig machen“ (ebd., 9); das Sowohl-als-auch steht im Wider-spruch zu einer Verknüpfung der Einzeldisziplinen. Und auch die Forderung, den Blick über den Tellerrand zu richten, adressiert beide Disziplinen (Schuh/Warschat 2013, 28 f.), also ei-nerseits die Ingenieurwissenschaften und andererseits die Betriebswirtschaftslehre, statt das Wirtschaftsingenieurwesen als integrierende Disziplin anzusprechen.

 

Formulierungen wie die zitierten verweisen auf die Möglichkeit, die Wirtschaftsingenieure schon heute haben und nutzen, sich in der Forschung zu engagieren. So können sie sowohl wirtschaftswissenschaftlich als auch technologisch forschen, allerdings jeweils quasi nur als halbe Wirtschaftswissenschaftler bzw. als halbe Ingenieure, und in den beiden Einzeldiszipli-nen stehen sie als Generalisten im Wettbewerb mit den jeweiligen Spezialisten. Gleichwohl soll ihre Fähigkeit, beide Disziplinen in einen Zusammenhang zu stellen, gar nicht geringgeschätzt werden. Dass dies für sich genommen ebenso wie in der Zusammenarbeit mit Spezialisten wei-terführend sein kann, zeigt der wissenschaftliche Erfolg zahlreicher Wirtschaftsingenieure. Wenn Heiner Müller-Merbach in dieser Hinsicht als einziges Beispiel angeführt wird, so nur deshalb, weil er sich zugleich für den Berufsstand des Wirtschaftsingenieurs in besonderer Weise eingesetzt hat und weil eine Auflistung aller Verdienstträger den Rahmen sprengen würde. Worum es hier also lediglich geht ist, dass der von der Deutschen Akademie für Tech-nikwissenschaften identifizierte Mangel einer wissenschaftlichen Fundierung der Vernetzung von Ökonomie und Technologie über die aktuellen Möglichkeiten hinausgehende Potenziale verschenkt, insbesondere im Hinblick auf die Gründung einer für das Wirtschaftsingenieurwesen spezifischen Forschungsdisziplin.

 

Aktuell ist für die Verbindung von Ökonomie und Technologie im Rahmen des Studiums ein Kernbereich mit Integrationsfächern vorgesehen (Brettel et al. 2012/2014, 29 f.). Dabei setzt man darauf, dass Themengebiete wie zum Beispiel „Operations Research, Projekt- und Prozessmanagement, Enterprise Ressource Planning, Fertigungswirtschaft, Technische Informatik und Wirtschaftsinformatik, Supply Chain Management, Fabrikplanung, Systemtechnik oder Logistik“ inhärent interdisziplinär ausgerichtet sind. Darüber hinaus, so die acatech-Studie, sei eine Vernetzung von Ökonomie und Technologie dadurch gewährleistet, dass diese beiden Ein-zeldisziplinen im Rahmen eines Wirtschaftsingenieurstudiums zumeist simultan gelehrt wür-den (Schuh/Warschat 2013, 13). Und auch bei der Lektüre des Qualifikationsrahmens kann der Eindruck entstehen, als würde allein schon aus der simultanen Vermittlung unterschiedlicher Lehrinhalte deren interdisziplinäre Vernetzung resultieren (Brettel et al. 2012/2014, 24). Dabei erscheint es geradezu evident, dass eben diese bloße Zeitgleichheit der Lehre eine Ursache für das Fehlen einer wissenschaftlichen Verankerung einer Vernetzung der in der Forschung bisher noch unvernetzt nebeneinanderstehenden Einzeldisziplinen (Schuh/Warschat 2013, 7) sein kann.

 

Als Ausgangspunkt für Überlegungen, in welche Richtung eine Vernetzung von Ökonomie und Technologie gehen könnte, führt die acatech-Studie die Beobachtung ins Feld, die beiden Ein-zeldisziplinen Betriebswirtschaftslehre und Ingenieurwissenschaften hätten sich in der Vergan-genheit konträr entwickelt (ebd., 29 f.):

 

  • Die Betriebswirtschaftslehre habe vielfach den Bezug zur Praxis verloren. Innovationen entstünden vor allem in der Wirtschaft und würden von der Forschung nur noch analysiert, plausibilisiert, erklärt und verfeinert. Dies führe zwar zu präzisen Lösungen, doch diese kämen für eine praktische Anwendung zu spät und würden dort in dieser Präzision auch gar nicht benötigt.
  • Die Ingenieurwissenschaften seien dagegen stark darin, schnell praktikable Lösungen zu liefern; die dem oft zugrundeliegende Trial-and-Error-Mentalität würde jedoch hohe Risi-ken bergen, die sich durch eine sorgfältigere wissenschaftliche Fundierung reduzieren ließen.

Aufgabe einer Wirtschaftsingenieurforschung soll vor diesem Hintergrund sein, die jeweiligen Vorteile der beiden Einzeldisziplinen zusammenzuführen und dadurch die jeweiligen Nachteile zu reduzieren: Die betriebswirtschaftliche Forschung soll von den Ingenieurwissenschaften etwas von deren Trial-and-Error-Mentalität übernehmen, um dadurch schneller praxisrelevante Lösungen zu liefern, während die Ingenieurwissenschaften von der Gründlichkeit betriebswirtschaftlicher Forschung profitieren und dadurch weniger riskante Lösungen hervorbringen sollen.

 

Dieser Ansatz lässt sich mit dem Qualifikationsrahmen insoweit in Verbindung bringen, als dieser Wirtschaftsingenieuren u. a. interkulturelle Kompetenzen nicht nur in Bezug auf verschiedene Länderkulturen, sondern auch auf unterschiedliche Fach- und Funktionskulturen zuerkennt (Brettel et al. 2012/2014, 14). Wie allerdings auf dieser Basis die von der acatech-Studie vermisste wissenschaftliche Verankerung einer Vernetzung von Ökonomie und Technologie im Sinne einer eigenständigen methodischen Fundierung (Schuh/Warschat 2013, 7) zu finden sein soll, bleibt auch bei diesem Ansatz offen. Und auch alle weiteren Ausführungen der Studie geben darauf keine Antwort. Daher soll die Suche nach einer solchen Antwort die fol-genden Überlegungen leiten. Die Frage lautet also:

Auf welcher wissenschaftlichen Grundlage lässt sich die Vernetzung von Ökonomie und Technologie verankern? Gibt es dazu eine eigenständige wissenschaftliche und methodi-sche Fundierung, die das profilgebende Herzstück einer Wirtschaftsingenieurforschung bilden kann?

4 Erklären und Verstehen

Während die bisher untersuchten Ansätze der acatech-Studie zur Beantwortung der gerade for-mulierten Frage unergiebig waren, lassen sich deren Ausführungen zur Unterscheidung der in den Ingenieurwissenschaften einerseits und in den Wirtschaftswissenschaften andererseits ver-wendeten wissenschaftlichen Methoden (Schuh/Warschat 2013, 35 ff.) im Hinblick auf die wei-teren Überlegungen durchaus fruchtbar machen. In hinreichender Übereinstimmung mit der Studie geht auch die hier zugrunde gelegte Positionierung des Wirtschaftsingenieurwesens im erkenntnistheoretischen Kontext aus von Diltheys (1894/1924, 143 f.) Unterscheidung in die auf das Subjekt ausgerichteten Geisteswissenschaften und die auf das Objekt gerichteten Na-turwissenschaften (Abbildung 1). Während Dilthey die Sozialwissenschaften allerdings den Geisteswissenschaften zuordnet, folgen die vorliegenden Überlegungen Weber (1921/1972, 4), der sozialwissenschaftliches Arbeiten als erklärendes Verstehen beschreibt und damit quasi zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften ansiedelt. Da sich das Wirtschaftsingeni-eurwesen aus den Natur- und den Sozialwissenschaften speist, basiert es vorrangig auf erklä-renden Ansätzen, die durch verstehende Ansätze quasi sozial temperiert sind.

 

Mit Hilfe der beiden erkenntnistheoretischen Ansätze des Erklärens einerseits und des Verste-hens andererseits lässt sich nun zeigen, dass aktuelle Auffassungen von möglichen Beiträgen einer Wirtschaftsingenieurforschung naturwissenschaftliche Wurzeln haben, während die hier entwickelte Auffassung von einer geisteswissenschaftlichen Betrachtung ausgeht, um sich dann aber mit der naturwissenschaftlichen Perspektive zu vereinen. Dies kann zugleich als ein Bei-spiel für eine vom Wirtschaftsingenieurwesen geprägte Denkweise verstanden werden.

Fügt man nach ingenieurwissenschaftlichem Deutungsmuster zwei Teile zu einem Ganzen, so erwartet man vom Ganzen durchaus neue Eigenschaften, neu insofern, als sie weder dem einen Teil noch dem anderen innewohnen. Beispielsweise sind Legierungsbestandteile des Edelstahls 1.4301 (X5CrNi-18-10) wie ca. 74 % Eisen und ca. 8 % Nickel ferromagnetisch, die Legierung aufgrund ihrer normalerweise austenitischen Kristallstruktur jedoch nicht. Trennt man die Teile wieder voneinander, so erhält man sie mit unveränderten Eigenschaften zurück, im ge-wählten Beispiel reines Eisen und reinen Nickel. Übertragen auf das Wirtschaftsingenieurwe-sen werden ingenieurwissenschaftliche und wirtschaftswissenschaftliche Aspekte in vergleich-barer Weise kombiniert. Auch davon verspricht man sich neue Ergebnisse, doch wie beim Bei-spiel des Edelstahls bleiben die einzelwissenschaftlichen Aspekte davon unberührt. Man be-dient sich ihrer, ohne sie durch ihre Vernetzung zu verändern (Abbildung 1, (2).

 

Geisteswissenschaftliche Deutungsmuster führen zu einem anderen Ergebnis: zwei Menschen, die zueinander in Beziehung treten, werden sich dadurch stets verändern und auch nach einer Beendigung ihrer Beziehung verändert bleiben, sich infolgedessen möglicherweise sogar noch weiter verändern. Eine Übertragung auf das Wirtschaftsingenieurwesen ist in Abbildung 1 dadurch angedeutet, dass Ökonomie und Technologie innerhalb dieser Disziplin durch ihre Verbindung verändert werden (3) und in dieser veränderten Form auf die Einzeldisziplinen zurückwirken (4). Durch eine wissenschaftlich fundierte Vernetzung der beiden Disziplinen leistet das Wirtschaftsingenieurwesen dadurch substanzielle Beiträge sowohl zur ingenieurwissenschaftlichen als auch zur wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, die aufgrund einer fehlen-den oder einer nicht weit genug reichenden Interdisziplinarität weder von der einen noch von der anderen Einzeldisziplin erbracht werden können.

 

Als wissenschaftliche Grundlage für eine interdisziplinäre Vernetzung, die solches leisten kann, sind disziplinspezifische Modelle ungeeignet, da Modelle nach Stachowiak (1973) stets nur auf bestimmte Erkenntniszwecke hin erstellt werden und da diese Zwecke innerhalb einer Einzel-disziplin per definitionem innerdisziplinär sind. Stattdessen lassen sich jedoch strukturwissen-schaftliche Modellwelten fruchtbar machen (Abbildung 1, (5). Dass und wie dies möglich und sinnvoll ist, soll nachfolgend am Beispiel der Systemtheorie skizziert werden.

5 Systemtheorie als wissenschaftliche Fundierung

Die Allgemeine Systemtheorie versteht sich seit Bertalanffy (1968) als strukturwissenschaftli-che Betrachtungsweise, die mit Hilfe formaler Ordnungsmittel wie zum Beispiel Strukturen und Prozessen oder Elementen und Relationen beliebige Betrachtungsgegenstände zu beschrei-ben und zu erklären versucht. Eines ihrer Ziele ist, Isomorphien zu identifizieren (ebd., 13), um auf ihrer Basis Erkenntnisse, die in einem Wissensgebiet wie zum Beispiel der Technologie gewonnen wurden, auf ein anderes Wissensgebiet, beispielsweise die Ökonomie, zu übertragen: „General Systems Theory will be an important means to facilitate and to control the application of model-conceptions and the transfer of principles from one realm to another. It will no longer be necessary to duplicate or triplicate the discovery of the same principles in different fields isolated from each other“ (Bertalanffy 1951, 306).

 

Eine bekannte, schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgreich angewandte und für die weiteren Überlegungen relevante Isomorphie ist der Regelkreis (Abbildung 2), der in den verschiedensten Systemen wie Maschinen (Zacher/Reuter 1972/2014), Organismen (Maturana 1982, 35) oder Organisationen (Willke 1982/2006, 132 ff.) in stets vergleichbarer Weise das Aufrechterhalten einer Homöostase, eines Fließgleichgewichts bewirkt. Dazu wird eine von einer Regelstrecke FS erzeugte, jedoch von Störgrößen z beeinträchtigte Regelgröße x fortwährend erfasst, von einem Messglied FM aufbereitet und als Rückführ größer mit der Führungsgröße w verglichen. Die Regeldifferenz e veranlasst einen Regler FR, Maßnahmen zur Minimierung der Regeldifferenz zu ergreifen und diese über ein Stellglied FSt in der Regelstrecke FS wirksam werden zu lassen.

 

Nach einer Reihe vorausgegangener Arbeiten war es vor allem Norbert Wiener, der 1948 auf der Basis dieses Modells mit seinem Hauptwerk „Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine“ den Grundstein einer seinerzeit ganz neuen Wissenschaftsdisziplin legte, den Grundstein zur Kybernetik. Als Mathematiker hatte er während des Zweiten Weltkriegs im Auftrag des britischen Militärs an der Entwicklung von Flugabwehrsystemen mitgewirkt (Aumann 2015, 24 ff.). Dabei galt es, die Mensch-Maschine-Interaktion zwischen Pilot und Flugzeug auf der einen Seite sowie Schütze und Kanone auf der anderen Seite als soziotechnisches System berechenbar zu machen. Wieners Beitrag bestand in der Entwicklung eines sogenannten Anti-Aircraft Predictors, einer Rechenmaschine, die das Flugverhalten eines Piloten prognostizieren sollte. Zwar hat Wiener dieses Problem theoretisch erfolgreich gelöst, doch praktisch überforderten die komplexen Rechenoperationen die Verarbeitungskapazität der seinerzeit verfügbaren Technik, so dass die militärische Förderung seines Projekts schließlich eingestellt wurde. Dank der damit entfallenen Geheimhaltungsauflagen konnte er seine Forschungsergebnisse fortan veröffentlichen (Wiener 1948/1961).

 

Die Arbeiten am Anti-Aircraft Predictor hatten bereits zu einem neuen Verständnis der Beziehung zwischen Mensch und Maschine (Abbildung 1: Subjekt und Objekt) geführt. Die Fortsetzung dieser Arbeiten führte dank einer Zusammenarbeit mit dem Physiologen Arturo Rosenblueth zu der Einsicht, dass organische Systeme und technische Systeme zwar nicht in jeder Hinsicht als isomorph, durchaus aber als funktionsanalog aufgefasst werden können.

Dass die Übertragung technologischer Erkenntnisse nicht nur auf organische Systeme, sondern auch auf ökonomische Systeme möglich ist, zeigte schon wenige Jahre später der Betriebswirt Stafford Beer (1951; 1968). Vor allem mit seinem Viable Systems Model (VSM) inspirierte er viele weitere Wissenschaftler, so z. B. Malik (1984/2015, 24), einen zeitgenössischen Vertreter der Managementkybernetik. In diesem Kontext dient das VSM als Referenzmodell zur Beschreibung, Erklärung und Gestaltung des Managements von Organisationen. Da es dabei unter anderem auch Aspekte der Selbstorganisation berücksichtigt, die mehr denn je als zukunftsweisend gelten (Ahrens 1996, 83 ff.), erscheint sein Potenzial noch nicht ausgeschöpft. Darüber hinaus belegt es, dass die Kybernetik als Teil der Systemtheorie (Ropohl 1978/2009, 75; Ulrich 1968/2001, 129) als wissenschaftliche Grundlage einer Vernetzung von Ökonomie und Technologie geeignet ist.

 

Dass die Kybernetik trotz solcher anhaltenden Erfolge inzwischen durch die Systemtheorie abgelöst wurde, hat mehrere Ursachen. Zum einen erlebte sie in den 1960er Jahren einen regelrechten Hype, wurde politisch und massenmedial aufgeladen und mit Erwartungen konfrontiert, die nicht einlösbar waren und infolgedessen zu Enttäuschungen führten, so dass sie in den 1970er Jahren das öffentliche Interesse verlor (Aumann 2015, 32). Heute erinnert nur noch das in der Öffentlichkeit und in populärwissenschaftlicher Literatur häufig verwendete Präfix „cyber“ an die einstige Popularität dieser Disziplin. In der Scientific Community hat diese Entwicklung dem Ansehen der Kybernetik als nach wie vor tragfähige Wissenschaft nicht geschadet. Meister und Lettkemann (2015, 107) stellen fest, dass in den Laboren oder auf Konferenzen von Hightech-Wissenschaften wie der Künstlichen Intelligenz, der Robotik oder der Hirnforschung ein auffällig starker Rückbezug auf die klassische Kybernetik zu beobachten ist.

 

Eine zweite Ursache dafür, dass die Kybernetik inzwischen in der Systemtheorie aufgegangen ist (Ropohl 1978/2009, 75; Ulrich 1968/2001, 129), liegt in ihrem begrenzten Betrachtungshorizont, denn sie bezieht sich vorrangig auf homöostatische Prozesse und liefert mit dem Regelkreis ein Modell, das es erlaubt, Abweichungen von einem Fließgleichgewicht zu minimieren. Davon nicht erfasst sind jedoch Gestaltungsvorgänge, die genau das anstreben, was in Prozessen als Fehler gilt: Abweichungen, Veränderungen, Neues. Aufgrund ihrer der Homöostase genau entgegengesetzten Zielrichtung ist dafür ein ganz anderes Vorgehensmodell erforderlich.

 

Das Wissensgebiet, das ein Vorgehensmodell zur Gestaltung von Systemen und eine dazu passende Methodik liefert, entstand etwa zur gleichen Zeit wie die Kybernetik: das Systems Engineering (SE). Zu den Pionieren gehörten die Bell Laboratories, die sich beim Bau von Telefon-netzen (Ropohl 1978/2009, 74) mit einer bisher in diesem Ausmaß noch nicht wahrgenommenen Komplexität konfrontiert sahen. Und auch die National Aeronautics and Space Administration (NASA) setzte unter anderem im Apollo-Programm schon früh auf SE. Inzwischen ist SE eng mit dem Projektmanagement verbunden (Haberfellner et al. 1976/2015, 31 ff.) und weltweit etabliert.

 

Dass Gestaltungsvorgänge grundsätzlich anders verlaufen als Lenkungsvorgänge, soll anhand des Problemlösungszyklus (ebd., 72; hier in einer erweiterten Fassung nach Ahrens 2014, 85) exemplarisch begründet werden. Geregelte Prozesse sollen üblicherweise kontinuierlich ablaufen, also nach Möglichkeit nicht unterbrochen werden, was auch nicht notwendig ist, da sich das System im Gleichgewicht befindet, sodass stets schon zu Beginn eines Durchlaufs bekannt ist, was am Ende herauskommen wird, wenn keine Fehler (Abweichungen) auftreten. Gestaltungsvorgänge zielen jedoch auf Neues, bisher noch Unbekanntes und können daher gar nicht absehen, ob das, was sie sich vornehmen, am Ende auch herauskommt. Und sie streben genau das an, was in homöostatischen Prozessen als Fehler gilt: bleibende Veränderungen. Daher wird der Problemlösungszyklus (Abbildung 3) nicht kontinuierlich durchlaufen, sondern in Phasen unterteilt, um ihn nach Abschluss einer jeden Phase zu unterbrechen. Im Projektmanagement bezeichnet man solche Unterbrechungen auch als Meilensteine. Diese geben Gelegenheit zu beurteilen, ob das Vorhaben noch auf dem richtigen Weg ist oder ob ein Rücksprung in vorausgegangene Phasen im Sinne eines zyklischen Vorgehens erforderlich ist, um neue Erkenntnisse einzubeziehen, bis hin, dass auch ein Abbruch des Vorhabens in Erwägung zu ziehen ist, wenn unüberwindbare Schwierigkeiten aufgetaucht sind, die zuvor nicht absehbar waren.

 

Anders als der Kybernetik wird der im Vergleich zu ihr allgemeineren Systemtheorie zugetraut, solche unterschiedlichen Systematiken unter einem Dach zu vereinen. Die Kybernetik geht dadurch in der Systemtheorie auf (Ropohl 1978/2009, 75; Ulrich 1968/2001, 129) und bildet eine ihrer wichtigsten Säulen, SE eine weitere. Allerdings steht die Systemtheorie noch auf vielen weiteren Säulen, denn auch das SE ist trotz seines universellen Anspruchs nicht ohne Spezifika, ist insbesondere sehr technologisch ausgerichtet. Exemplarisch zu nennen ist in dieser Reihe auch die soziologische Systemtheorie, die in ihrer heutigen Ausprägung vor allem von Luhmann (1984/1996) geprägt wurde und für die sozialwissenschaftlichen Grundlagen des Wirtschaftsingenieurwesens relevant ist (vgl. Abbildung 1). Und auch die Informatik, die ebenfalls einen wichtigen Teil des Wirtschaftsingenieurwesens ausmacht, basiert seit jeher auf systemtheoretischen Konzepten. So war zum Beispiel schon einer der Pioniere der Computerentwicklung, John von Neumann, Wegbereiter der Kybernetik, indem er in seinem posthum erschienenen Hauptwerk „The Computer and the Brain“ (1958/1991) die Art der Datenverarbeitung eines Computers sehr ausführlich mit der Funktionsweise des Gehirns verglich.

 

Die jahrzehntelange Verankerung der Systemtheorie in allen für das Wirtschaftsingenieurwesen relevanten Themengebieten und das Vorhandensein von Grundbausteinen einer allgemeinen Theorie, die ein Vernetzen der Einzeldisziplinen ermöglicht, qualifiziert diese Theorie als wissenschaftliche Grundlage einer Forschung, die sich aus dem Integrationsgebiet und damit aus dem Spezifikum des Wirtschaftsingenieurwesens speist. Die Möglichkeit, auf dieser Basis Isomorphien zu identifizieren, ermöglicht eine Rückwirkung auf die Einzeldisziplinen und damit einen eigenen Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt (Abbildung 1, (4), den zu leisten Einzeldisziplinen nicht in der Lage sind, weil ihre per definitionem spezialisierte Betrachtungsweise keine oder keine hinreichend ausgeprägte Interdisziplinarität erlaubt, wie sie, richtig verstanden und konsequent umgesetzt, solchen Disziplinen vorbehalten ist, die mit einem generalistischen Selbstverständnis (Müller Merbach 1988, 6 ff.; Brettel et al. 2012/2014, 17) Interdisziplinarität als ihr profilgebendes Herzstück betrachten.

6 Was zu tun ist

Trotz der Evidenz der vorgetragenen Argumente wird zunächst Überzeugungsarbeit zu leisten sein, denn mit einer Forderung nach (mehr) Interdisziplinarität ist man schnell in guter Gesellschaft, doch ebenso schnell stößt man beim Versuch ihrer Umsetzung an Grenzen.

Dass dies Grenzen der gegenseitigen Akzeptanz verschiedener Einzeldisziplinen sein können, demonstriert zum Beispiel Ropohl auf eine, zurückhaltend ausgedrückt, recht unhöfliche Art und Weise, wenn er sich in der ersten Ausgabe seiner „Systemtheorie der Technik“ zu Luhmanns (1984/1996) weltweit anerkannten soziologischen Systemtheorie so äußert: „Da dieser systemtheoretische Dilettantismus die Reputation auch der seriösesten Systemtheorie in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit ärgerlicherweise erheblich belastet, müssen wir unsere Position im folgenden mit größter Gründlichkeit explizieren, um nicht solchen Kritikern anheimzufallen, die, über Systemtheorie lediglich in der erwähnten sozialphilosophischen Verzerrung informiert, den Sack schlagen, obwohl sie doch nur den Esel meinen können“ (1978, 49). Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Lektüre von Werken wie Luhmanns Grundriß einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme (1984/1996) für Ingenieure durchaus eine Herausforderung sein kann. Doch Wirtschaftsingenieure werden sich die Mühe machen müssen, wenn sie die Systemtheorie zur wissenschaftlichen Grundlage der Verknüpfung von Ökonomie und Technologie machen.

 

Dass es viele Ingenieure gibt, die bereit sind, sich auf eine gewisse Vermenschlichung technischer Systeme einzulassen, wie sie auch und gerade in die Kybernetik immer wieder zu beobachten ist, lässt sich aktuell zum Beispiel daran erkennen, dass sie unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ keine Schwierigkeiten damit haben, Technik als intelligent zu bezeichnen, obwohl Intelligenz an sich eine menschliche Domäne ist (Ahrens 2012, 30 f.). Ob sich allerdings Sozialwissenschaftler ebenso bereitwillig auf eine bis zu einem gewissen Grad mechanistische Art der Modellierung soziotechnischer Systeme einlassen werden, erscheint nicht selbstverständlich.

 

Zumindest Ökonomen sollten damit wenig Probleme haben. Ihrer Art der Modellierung von Organisationen liegt schon lange die sogenannte Maschinenmetapher zugrunde, nach der Abläufe in Unternehmen und Verwaltungen reibungslos funktionieren sollen. Als Beleg für diese lange Denktradition zitiert Kieser (1992/2006, 97) Boucart (1874, 16) mit den Worten: „Ein industrielles Geschäft ist am besten mit einer Uhr zu vergleichen, bei der ein Rad ins andere eingreift […]. Die Arbeit des Verwalters gleicht ganz derjenigen eines Uhrenmachers, der das Räderwerk einzurichten, in Gang zu setzen und zu reguliren hat“. Diese Art der Modellbildung wird von einer systemtheoretischen Fundierung des Wirtschaftsingenieurwesens voraussichtlich besonders stark profitieren.