Reinhard Ueberhorst
Bericht und Nachbetrachtung zum 62. Forum Politik und Wirtschaft mit dem Thema:
Der Beitrag der Philosophie zur Klimadebatte
Das Thema und der Referent, der Mannheimer Philosophieprofessor Bernward Gesang, weckten ein großes Interesse. Das zeigte die große Anzahl der Teilnehmenden (über 70) und die Tatsache, dass zum Schluss der Veranstaltung die Zeit nicht mehr reichte, alle interessierten Wortmeldungen aufzurufen und angemessen zu diskutieren. Wir werden die kleine Reihe in der großen fortsetzen: die kleine Reihe der Foren zur Internationalen Klimapolitik in der großen der Foren Wirtschaft und Politik. Mit jedem weiteren, wie auch jetzt wieder mit diesem, gewinnen wir neue Einsichten. Sehr verschiedene Einsichten. Analytische in die Herausforderung einer gebotenen Klimastabilisierung, der wir uns bislang nicht sicher sein können. Praktische in eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten, zu denen aber bislang nicht die erforderlichen Übereinstimmungen oder wenigstens Mehrheiten erreicht wurden, womit sie nicht umgesetzt werden.
Im Umgang mit diesen Einsichten, die als Lern- und Entwicklungsaufgaben praktischer Politikfähigkeit zu lesen sind, muss sich unser politisches System bewähren und seine Entwicklungsaufgaben erkennen, national wie international. Das Verständnis einer aufgabenorientierten demokratischen gesellschaftlichen Politikfähigkeit (und mit ihm unser Forum Politik und Wirtschaft im Studium generale) ist aufgabenorientiert an diesen Lern- und Entwicklungsaufgaben orientiert. Dabei geht es insbesondere um eine erfolgreichere Kommunikation und Kooperation wissenschaftlicher und politischer Akteure.
Wissenschaftliches Wissen ist unverzichtbar, um die anstehenden Aufgaben zu erkennen und aufzuzeigen. Das Wissen ist notwendig, aber nie hinreichend, wenn es darum geht, zu politischen Entscheidungen zu kommen. Wie ist es aufzubereiten? Mit welchen Ansprüchen, Politik durch eine beanspruchte Expertise zu orientieren oder politische Beratungsprozesse durch hilfreiche Vorarbeiten zu befördern, insbesondere zur Vermittlung wohl elaborierter Alternativen und ihrer Implikationen?
Nicht zum ersten Mal war nun auf dem 62. Forum Politik und Wirtschaft mit Professor Gesang von der Universität Mannheim ein Philosoph unser Referent und Gesprächspartner zu diesen Schlüsselthemen unserer politischen Kultur im Kontext klimapolitischer Herausforderungen.¹ Wir waren sehr glücklich, Professor Gesang kurzfristig für dieses 62. Forum gewonnen zu haben, weil wir eine Frage fokussieren wollten, die auf dem 61. Forum als Thematik deutlich geworden, durch den Referenten Dr. Lambert Schneider vom Öko-Institut aber nicht behandelt worden war.
Auf dem 61. Forum war es höchst angenehm zu erfahren, wie der Referent, ein Verfahrenstechniker, („Ich bin kein Politikwissenschaftler“) sich zurückhielt, wenn Fragen aufgeworfen wurden, deren Bedeutung er nicht bestreiten, die er aber auch nicht beantworten wollte, schon gar nicht mit einem wissenschaftlichen Geltungsanspruch und auch nicht mit einer politischen Meinung. Die wichtigste derartige Frage war die nach einem richtigen Mix aus Klimaaußenpolitik und dem nationalen Streben nach nationaler Klimaneutralität.
Aus der Literatur kennen wir diese Frage durch die langjährigen Arbeiten des Philosophen und Wirtschaftsethikers Bernward Gesang.² Gesangs Grundgedanke: Nicht nur die eigene Bilanz im eigenen Land (also das, was wir tun, um unsere Klimaneutralität national zu erreichen) ist wichtig, sondern auch der absolute Beitrag zur Minderung der Emissionen weltweit. Was ist da nun der richtige Mix? Das war eine der Leitfragen, denen Gesang in seinem Vortrag folgte. Durchgehend in dem Bestreben aufzuzeigen, was „Der Beitrag der Philosophie zur Klimadebatte“ sei, wie er den Titel sei seines Vortrags formuliert hatte. Wer die Folien dieses Vortrags (nach)lesen möchte, findet sie über den folgenden Link.
Hier will ich aus dem Vortrag nur einige Kerngedanken und -botschaften festhalten, die in der anschließenden Diskussion aufgegriffen wurden. Teils zustimmend, teils nachfragend, teils kritisch widersprechend.
Dass man dies pauschal für alle MdBs sagen könne, wurde bestritten. Noch mehr aber der Vorstellung, dass aktuelle Defizite in der parlamentarischen Zukunftspolitik auf eine Lücke im parlamentarischen System verwiesen, die nur durch einen institutionellen Anbau geschlossen werden könne. Eben zum Beispiel durch einen Zukunftsanwalt mit einem Vetorecht gegenüber dem Parlament oder durch eine Zukunftskammer, die in relevanten Politikagenden gehört werden müsse und ein aufschiebendes Veto gegen Bundestagsentscheidungen einlegen könne. Professor Gesang bekannte sich als Anhänger der Idee eines Zukunftsanwalts, der gegenüber dem Parlament ein Vetorecht habe. In Ungarn habe man damit gute Erfahrungen gemacht. Auch derart, dass der Zukunftsanwalt Beachtung gefunden hätte, ohne sein Vetorecht auszuüben.
In seinem Buch (2020) hat Bernward Gesang dies ausführlicher dargestellt. Immer wieder in großer Verbundenheit mit einem Konzept, das der WBGU 2011 als großes Gutachten vorgelegt hat und in dem auch für eine Machtverschiebung zulasten des Parlaments plädiert wird. Der Beirat plädiert für eine Zukunftskammer, die in relevanten Politikagenden gehört werden muss und ein aufschiebendes Veto gegen Bundestagsentscheidungen einlegen kann. Die Zusammensetzung dieser Kammer soll durch Losverfahren und nicht durch Wahlen ermittelt werden. Dem habe ich auf unserem Forum, jenseits meiner Rolle als Moderator des Forums in einem persönlichen Beitrag eines ehemaligen Bundestagsabgeordneten deutlich widersprochen. Grundgedanken: Es gelte in einer erneuerten Methodik parlamentarischer Arbeit, nicht zuletzt auch in Enquete-Kommissionen die Chancen für parlamentarische Zukunftspolitik zu erschließen und zu nutzen. Und: Es sei ganz verkehrt und gefährlich, Schwachstellen im Parlament durch seine weitere Schwächung ausgleichen zu wollen.
Hier kollidierten fundamental unterschiedliche Vorstellung über eine gute Weiterentwicklung unserer parlamentarischen Demokratie.[4] Kollidierten? Ja, aber in einer freundlichen Atmosphäre und in einem Austausch von Argumenten, nach dem sich die Kontrahenten am Tag danach wechselseitig vergewissert haben, es habe Spaß gemacht.
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Studierende und Alumni der NORDAKADEMIE haben die Möglichkeit, die hier angesprochenen Themen im Seminar Politik und Wirtschaft -- Basiswissen und -kompetenzen für Querdenker:innen zu reflektieren und zu diskutieren.
[1] Auf dem 48. Forum referierte im Januar 2020 der Philosoph Martin Kowarsch mit dem Konzept einer „deliberativen Demokratie“. Seine Frage als Veranstaltungstitel lautete: Ist Demokratie zu langsam für Klimaschutz?
Siehe: https://www.nordakademie.de/news-media/news/48-forum-politik-und-wirtschaft-der-nordakademie
Der promovierte Philosoph Martin Kowarsch, Leiter der Arbeitsgruppe Wissenschaftliche Assessments, Ethik und Politik am Berliner Klimaforschungsinstitut MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change), ist seit Mai 2023 auch Adjunct Professor an der Universität Aalborg in Dänemark.
[2] Zuletzt kurz und prägnant in seinem Essay Klimaschutz neu geträumt Was der Staat und der Einzelne tun können, um effizient zu sein, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/traeume-2023/519802/klimaschutz-neu-getraeumt/
[3] Bernward Gesang, Mit kühlem Kopf. Über den Nutzen der Philosophie für die Klimadebatte, München 2020, 240f
[4] Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), Hauptgutachten: Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, WBGU Berlin, 2011. Kritisch dazu Reinhard Ueberhorst, Brauchen wir einen Neuen Gesellschaftsvertrag für unsere gesellschaftliche Politikfähigkeit? In: Georg Plate (Hrsg.): Forschung für die Wirtschaft 2012. Cuvillier, Göttingen, 2012, S. 287–314. Zu anzustrebenden Arbeit in Enquete-Kommissionen siehe u.a. R. Ueberhorst, Über den Umgang mit nicht beliebigen kooperativen Leistungszielen im Arbeitsprozess der wachstumspolitischen Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages (2011-2013). In: Georg Plate (Hrsg.): Forschung für die Wirtschaft 2013. Cuvillier, Göttingen, 2013, S. 315–341