Zwei Teilnehmer -- der Präsident der NORDAKADEMIE, Professor Dr. Wiedmann, und der frühere Bundesminister Dr. Volker Hauff -- hatten vorher mitgeteilt, aus Zeitgründen nur bis zum Ende des Vortrags dabei sein zu können. Ihnen entging eine spannende, lehrreiche Diskussion nach dem Vortrag. Eine Diskussion, deren Verlauf niemand vorher-sehen konnte und in der bis zur letzten Minute berechtigte Fragen, neue Gedanken und auch sehr ernst zu nehmende (vielleicht nicht nur für mich neue) Streitfragen eingebracht wurden. Das soll genauer berichtet werden.
Spannende Diskussionen hatten wir schon auf vielen Foren. Aber noch nie eine so sehr und so lange auf ein Thema fokussierte, das im Vortrag nur eines von vieles, eines neben vielen anderen war. Jedenfalls zu sein schien. Dieser Eindruck sollte durch die Diskussion korrigiert werden. Mit ihr konnte das Thema auch in Aspekten erhellt werden, die es mit anderen bildungspolitischen Themen gemein hat. Zu entdecken waren damit Zusammenhänge, die im Vortrag angelegt, aber noch nicht angesprochen waren. Als Ertrag konnten wir alle ein Wissen über ein Thema in seinem Kontext mitnehmen, das vor dem Forum so niemand gehabt hat. Mehr können wir uns von einem Forum nicht wünschen!
„Forum“ steht ja für Gedankenvielfalt und Aussprache. Und „Aussprache“ steht nicht für ein banales „Schön, dass wir mal darüber gesprochen haben …“. In der Kommunikation auf unseren Foren Politik und Wirtschaft geht es immer aufgabenorientiert um relevante aktuelle Herausforderungen und den durchaus ambitionierten Versuch, sie mithilfe des Forums vorzüglich zu verstehen. Durch Referentinnen, die herausragendes Wissen mit- und einbringen, und nicht weniger durch die anschließende Diskussion der Teilnehmenden, die neues Wissen zeitigen kann. Alles immer in der praktischen Absicht, einen wenn auch noch so bescheidenen Beitrag zu unserer demokratischen gesellschaftlichen Politikfähigkeit im Umgang mit komplexen politischen Herausforderungen zu leisten, wie wir es mit dem Bologna-Bildungsziel „democratic citizenship“ anstreben.
Eine solche Herausforderung ist für unseren Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier das Thema, das mit der Diskussion auf diesem Forum als mehrfache Kontroverse herausgearbeitet wurde. Kontrovers ist schon der Name und damit die Antwort auf die Frage, was denn angestrebt wird. Hinzu kommen weitere Kontroversen, die unsere Diskussion erhellt hat. Für Steinmeier geht es um eine „soziale Pflichtzeit“. Den Bundespräsidenten motiviert seine Wahrnehmung eines bedrohten gesellschaftlichen Zusammenhalts in unserem Land. Im vergangenen Jahr sprach er sich wiederholt für eine „soziale Pflichtzeit “aus, damit „das ewige Plädoyer für Zusammenhalt nicht folgenlos bleibt“. Eine soziale Pflichtzeit, so Steinmeier, solle „den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und Menschen aus verschiedenen Lebenswelten zusammenbringen“.
Unser Referent hatte genau diesen Vorschlag mit dieser Begründung zum Ende seines Vortrags vorgestellt, kritisiert und alternativ zu ihm ein eigenes Konzept vorgeschlagen: Ein allgemeines und obligatorisches Jahr der Bürgerarbeit als integralen Teil der Bildung, als ein letztes, praktisches Schuljahr, gleich in welcher Schulform und mit welchem Abschluss. Greffrath wörtlich:
„Zu lernen, sich „für eine gewisse Zeit den Sorgen ganz anderer, zuvor fremder Menschen zu widmen, für diese Menschen schlicht und einfach da sein. Mit Empathie, mit Nächstenliebe“ – das klingt eher nach der Bewältigung von Engpässen in einem unterfinanzierten, personell unterausgestatteten Sozialstaat. Wieder einmal Ersatzdienst.
Wenn ein solcher Dienst junge Menschen begeistern soll, und Bürgersinn in ihnen wecken, dann muss er Zukunft verkörpern – und schaffen. Ein Jahr, in dem junge Menschen, die nur die Schule kennen, in sozialen, ökologischen, medizinischen, pädagogischen, sportlichen, künstlerischen und kulturellen oder kommunalen Bereichen nicht nur ein kurzes Praktikum absolvieren, sondern unter qualifizierter fachlicher Anleitung arbeiten, lernen, etwas schaffen und Erfahrungen sammeln. Jugendlichen Arbeitslosen würden fehlende Basisqualifikation vermittelt, ihr Selbstwertgefühl gestärkt und Orientierung für den Eintritt ins Arbeitsleben gegeben werden. Zielstrebige Abiturientinnen könnten vor dem Studium wenigstens einmal über den Tellerrand ihrer Milieus blicken. Jugendlichen Migranten und Asylbewerbern würde die Integration erleichtert.
Ein solcher Bürgerdienst sollte die große Transformation hin zur postfossilen Gesellschaft in Gang bringen: den Umbau der Städte, die Renaturierung der Wälder, den Bau und den Betrieb erneuerbarer Energiesysteme, die Heilung von Umweltschäden, den Aufbau von Recycling-Zentren. Und ja: die Übernahme von Aufgaben, die der Staat nicht mehr leisten kann – aber dabei ihre Veränderung: etwa im Aufbau von Gesundheitskiosken und Jugendzentren, im Bau und Betrieb von Küchen in jeder Schule und Kitas, bei der Begrünung von Dächern etc. etc. Genug Arbeit für 800 000 jedes Jahr und eine Provokation für Gesundheitsämter und Gewerbeaufsicht.“
So trug er es vor. Zum Ende seines fast einstündigen Vortrags. Dem folgte noch eine emphatische Einlassung zur öffentlichen Schule als „Hort der Demokratie“. Beginnend mit dem Zitat des Bundeskanzlers Willy Brandt aus seiner ersten Regierungserklärung 1969 „Die Schule der Nation ist die Schule“. Warum? Greffraths Begründung: „nicht, weil sie Demokratie unterrichtet. Oder Werteunterricht veranstaltet. Sondern weil sie als Schule ein Ort zur Herstellung der Mangelware „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ ist. Wie mangelhaft auch immer, ist sie immer noch ein zentraler sozialer Ort am Beginn eines Lebens, an dem ich Freundschaften schließe, an dem ich auf Erwachsene treffe, die nicht meine Eltern sind, an dem meine ersten Kontakte mit „Gesellschaft“ stattfinden.“
Für seinen fast einstündigen, frei gehaltenen Vortrag hatte der Referent knapp 30 Seiten „Bausteine“ ausgearbeitet, aus denen ich eben zwei Passagen zitiert habe. Wer das ganze Manuskript lesen möchte, findet unten einen Link.
Die Ausarbeitung enthält sehr viel mehr, als der Redner vortragen konnte, darunter auch Gedanken zur Hochschulbildung im Kontext der Zeitenwende. Überlegungen „zur Zukunft unserer Universitäten“ waren ja (neben solchen zu unseren Schulen) mit dem Titel des Forums angekündigt worden. Aus Zeitgründen konnte der „journalistische Aufklärer“ (so SZ-Journalist Dr. Heribert Prantl über seinen Kollegen) darüber aber nichts vortragen. Ich bin sicher, dass manche diesen Teil zu den Hochschulen vermisst haben, auch wenn es niemand explizit beklagt hat. In einem frei gehaltenen Vortrag kann es passieren, dass die Zeit für eigentlich Geplantes fehlt. Aber das Thema bleibt aufgerufen.
Unser Referent hatte sich fast eine Stunde auf seine Überlegungen zur Zukunft unserer Schulen konzentriert, hatte eine kaum zählbare Vielzahl von Gedanken für diverse Teil-Themen dargeboten, die er in seinem Jahrhundertthema „Bildung für die Zeitenwende“ zusammengeführt haben wollte. Da ging es insbesondere um den Versuch, eine Reihe von Krisen zusammen zu schauen. Im Anthropozän. Für Greffrath „das Wort, das die Lage zusammenfasst“, die Bedrohungen, das Wissen um die planetaren Belastungsgrenzen.
Als Welt multipler Krisen wollte er die Zeitenwende verstanden sehen, also nicht so eng wie Bundeskanzler Scholz, der den Begriff wenige Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine als zeitdiagnostischen Befund sicherheitspolitisch einführte. Den Begriff „Zeitenwende“ fasste er damit weit und fragte: Wie muss ein Bildungssystem, wie müssen unsere Schulen aussehen, die uns in Stand setzten, in einer Welt multipler Krisen zu bestehen, die Wandlungsprozesse zu ertragen und zu gestalten?
„Zeitenwenden“ (frühere, wie zum Beispiel die Reformationszeit, wie auch die jetzige) gehen für den Berliner Publizisten und Soziologen Hand in Hand mit Umwälzungen der Technologien und der Wissenssysteme, der Lernformen, der Großen Erzählungen, in denen Gesellschaften ihren Zusammenhalt finden. Mit der jetzigen Zeitenwende ginge es um ein „neues Heimatgefühl“. Die anspruchsvollste Aufgabe für die Schule und vielleicht eine, die nur die Schule leisten könne, so erklärte er mit Bezugnahme auf das „Terrestrische Manifest“ des im Oktober 2022 verstorbenen französischen Philosophen Bruno Latour, sei es, „den Nachwachsenden zu ermöglichen, diese Welt als Heimat zu erfahren, sich in ihr zu Hause zu fühlen.“
Die Schule, so sein Plädoyer, müsse „zur organisierenden, aktivierenden Institution der Gesellschaft werden.“ Dies „umso mehr, als der Beitrag der Familie zum Aufbau der sozial-kulturellen Persönlichkeit schrumpfe.“ Anforderungen des Berufslebens, der Trend zur Kleinfamilie, zu Alleinerziehenden, die Frauenerwerbstätigkeit stressten die Familie und schwächten ihre Erziehungsfähigkeit, selbst die der Mittelschichten. Diese Erziehungsschwäche erfordere eine stärkere Übernahme auch der basalen erzieherischen Aufgaben (Ordnung, Arbeitstugenden etc.) durch die Schule. Die Schule werde dann „der zentrale soziale Ort, für alle“. Dann folgte Greffraths schon zitiertes Plädoyer für ein „sozial-ökologisches Lernjahr“.
Zuerst sah es so aus, als sollte in der Diskussion nach dem Vortrag, so wie man es oft nach Vorträgen erlebt, das eine oder andere Teilthema des Vortrags noch einmal angesprochen werden. So erzählte der IT-Unternehmer Kelting von frühen Versuchen, 2013 Tablets in die Schulen zu bringen, was durchaus auf einer Linie lag, die Mathias Greffrath angesprochen hatte. Auf einer. Das hätte mit anderen Linien lange so weiter gehen können.
Sehr verständlich war auch eine Wortmeldung unmittelbar nach dem Vortrag, mit der die Alumna der Nordakademie und Photovoltaik-Unternehmerin Helen Lemm Bannister nur schlicht vortrug, die gehörte Vielzahl der Gedanken erst mal sacken lassen und über sie nachdenken zu müssen. Das wird vielen so gegangen sein. Der Referent, ein leidenschaftlicher Essayist, vielen bekannt durch seine von zigtausend Zuhörer:innen gehörten Radioessays im Deutschlandfunk, hatte sich ja in der Vielfalt der vorgetragenen Gedanken (auch bei uns) nicht zurückgehalten oder gar ausgebremst.
Greffraths Zugang zu Problemfeldern ist die essayistische Betrachtung. Nicht die disziplinär-fachlich strukturierte Abhandlung. Und auch nicht die interessen- oder parteipolitische Programmatik. Als Essayist denkt er versuchsweise, kreativ, frei erwägend, im Zweifel lieber überreich an Gedanken und stützt sich dabei gerne immer wieder auf Gewährsmänner. Ja Männer. Das fiel auf. Es mag ein Zufall des Tages gewesen sein, dass er für seinen Gedankengang bei uns immer wieder bedeutende männliche Stimmen einbaute. Philosophen, Pädagogen, Anthropologen, Soziologen, Dichter. Klassiker wie Comenius, Adam Smith, Voltaire oder Diderot. Andere aus dem 20. Jahrhundert wie den Medienwissenschaftler Neil Postman, den Kulturkritiker, Philosophen, Theologen Ivan Illich, den Anthropologe André Leroi-Gourhan, die Soziologen Arnold Gehlen und Helmuth Schelsky, den schon erwähnten französischen Philosophen und Soziologen Bruno Latour oder den anglo-amerikanischen Poeten W.H Auden.
Wie eingangs beschrieben reagierte das Auditorium auf dieses Gedankenfeuerwerk mit einer sehr fokussierten Diskussion zur Idee eines „sozialen Pflichtjahrs“. Nicht nur zur Vielfalt der Verständnisse dieser Idee, auch zur Frage, wie man mit ihr umgehen sollte.
Eine fokussierte Diskussion über fast die ganze für die Diskussion zur Verfügung stehende Zeit kann man nicht planen oder herbeimoderieren. Vorhersehbar war sie nicht, ist aber im Rückblick erklärbar. Die Teilnehmer:innen des Forums haben es schlicht so gewollt. Nachdem das Thema relativ frühzeitig nach dem Vortrag angesprochen worden war, wurde es für andere Teilnehmer so interessant, dass sie zustimmen, widersprechen und vor allem kreativ zu diesem Thema weiterdenken, nicht aber neue Themen einbringen wollten. Die thematisch fokussierte Diskussion wurde damit ein sich selbst tragender und stimulierender Prozess. Nur zeitlich ausgebremst, weil eine solche Veranstaltung nun einmal auf zwei Stunden angelegt ist. Aber hinreichend ertragreich, um zu zeigen, dass wir uns gut auch in längeren Workshops, Symposien oder diskursiven Projektarbeiten mit der Thematik beschäftigen könnten (und sollten).
Ertragreich war die Diskussion dieses Forums für diejenigen, die vermehrtes Wissen über Konflikte und ungeklärte Fragen in ihrer wissenschaftlichen oder politischen Arbeit zu schätzen wissen. Ich möchte diesbezügliche Erträge in vier Abschnitten skizzieren:
Auch noch nach dem Forum wurde darüber diskutiert. Für manche war der Vortrag, der sich durch fehlende Voraussetzungen nicht davon abhalten ließ, Wünschbares, gar Gebotenes zu formulieren, ein irritierender Angang, in dem eine „klare Linie“ fehlte. Ja, so kann man es sehen und denjenigen, die mir diese Kritik nach dem Forum zugerufen haben, möchte ich auch hier antworten, dass nichts dagegengesprochen hätte, sie auf dem Forum einzubringen. Dann hätten wir darüber gesprochen. Auch darüber, wie wir mit Themen umgehen wollen, zu denen eine klare Linie nicht vermittelt werden kann, ohne zu viel Wichtiges und Kontroverses wegzulassen. Und ohne fehlende Voraussetzungen als gegebene zu fingieren. Für ein aufgabenorientiertes Studium generale, so denke ich, tun wir gut daran, solche Themen nicht auszublenden. Das sind die Themen, zu denen wir gesellschaftliche Verständigungsaufgaben erkunden und entdecken können. An ihnen muss sich unsere Demokratie im 21. Jahrhundert mehr und mehr bewähren und ein aufgabenorientiert angelegtes Studium generale sollte dazu auch vermitteln, wo wir uns der Voraussetzungen gesellschaftlicher Politikfähigkeit noch nicht sicher sind, um besser für sie arbeiten zu können.
Das Manuskript von Herrn Matthias Greffrath steht zum Download bereit.
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Im Seminar Politik und Wirtschaft -- Basiswissen und -kompetenzen für Querdenker:innen besteht die Möglichkeit, die angesprochenen Themen wieder aufzunehmen und zu vertiefen. Im Kontext der Wirtschaftswissenschaften auch auf dem nächsten Forum Politik und Wirtschaft am 9. Februar 2023: https://www.nordakademie.de/news-media/events/60-forum-politik-wirtschaft