Reinhard Ueberhorst
Bericht über das 60. Forum Politik und Wirtschaft zum Thema: Die
sozial-ökologische Transformation im Zeitalter multipler Krisen: Von
Möglichkeitsräumen und gesellschaftlicher Erschöpfung
Das komplexe, teilthemenreiche Thema hatte unser Referent formuliert:
Reinhard Loske, promovierter Wirtschaftswissenschaftler und habilitierter Politologe mit vielen Erfahrungen in wissenschaftlich und politisch geprägten Arbeitskontexten. So war er u.a. Forscher im Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, Abgeordneter des Deutschen Bundestages, Senator für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa der Freien Hansestadt Bremen, Professor für Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der Universität Witten/Herdecke und Präsident der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Rheinland-Pfalz.
Für unser Forum hatte der Referent einen Vortrag ausgearbeitet, der Wissen
und Erfahrungen aus diesen verschiedenen Denk- und Arbeitsfeldern aufgabenorientiert und konzeptionell zusammenführte. Auch wer nicht dabei war, kann die Vortrags-Folien nachlesen, die der Referent in seinem Vortrag vorstellte und erläuterte. Ein Link steht am Ende dieses Berichts. Angesprochen wurde eine Vielzahl von Erkenntnissen und Botschaften. Mit dem Vortrag ging es um harte naturwissenschaftlich ermittelte Befunde zu planetarischen
Belastungen, um orientierende ethische Prinzipien, um Irrwege im ökonomischen Denken, um neue plurale Ökonomien und durchgängig um die Schlüsselfrage, wie in diesen Jahren positive Handlungsenergie erzeugt werden kann, um vorhandenes Problemlösungswissen besser als bislang zu nutzen.
Mit diesem aufgabenorientierten Zugang lag der Referent ganz auf der Linie
dessen, was wir mit den Foren Politik und Wirtschaft anstreben. Es geht uns
immer wieder darum, komplexe aktuelle politische Herausforderungen kreativ
zu interpretieren und Handlungsstrategien zu erkunden, so möglich auch zu
befördern.
Eine solche Herausforderung ist in unserer Zeit die von Dr. Loske adressierte
sozial-ökologische Transformation. Das Konzept der sozial-ökologischen
Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft hat für ihn in den vergangenen
zwei Jahrzehnten vielfältige Präzisierungen erfahren und auch deutlich an politischer und gesellschaftlicher Zustimmung gewonnen. Dabei lautet die Grundhypothese, dass die gegenwärtige Entwicklung in Schlüsselsektoren wie der Energieversorgung, der Mobilität, der Landnutzung und des Ressourcenverbrauchs in keiner Weise kompatibel ist mit den Anforderungen einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Entwicklung, weshalb umfassende
Transformationsprozesse erforderlich sind.
Im Zentrum dieser Debatte stehend sieht Loske vor allem die sich zuspitzende
Klimakrise und die eskalierende Biodiversitätskrise. Gleichzeitig würden zunehmend übergeordnete Themen wie die intergenerative Gerechtigkeit ("enkeltaugliche Entwicklung"), die internationale Gerechtigkeit ("gerechte Globalisierung"), und die Eigenrechte der Natur diskutiert. Scheinbar alte Themen wie die "Grenzen des Wachstums" (Club of Rome 1972) kehrten in neuem Gewande zurück und schafften Diskursräume für eine "Postwachstumsökonomie" oder ein "Grünes Wachstum". Mit der Häufung und Zuspitzung anderer Krisen wie der Finanzkrise (2007 ff.), der Coronakrise (2020 ff.) und nunmehr der Ukraine-, Energie- und Inflationskrise (2022ff.) stelle sich, so Loske, nun die Frage, ob und wie diese Krisen mit der Klimakrise und der Biodiversitätskrise korrespondieren, und ob es gemeinsame Problemwurzeln und Lösungsansätze gibt. Loskes Frage: Führt die Einsicht in die Notwendigkeit der gemeinsamen Bekämpfung der diversen Krisen dazu, dass sich nun das Fenster der Möglichkeiten für eine sozialökologische Transformation weit öffnet? Oder ist eher zu befürchten, dass die Gesellschaften sich mit der Größe und Komplexität der multiplen Krise überfordert fühlen und aus Gründen der Erschöpfung die Zuversicht verlieren, in alte Muster zurückfallen und die Verteidigung des Status quo zur Richtschnur ihres Handelns machen?
Gut 40 Teilnehmende (in Präsenz und online) hörten den Vortrag, den Professor Petersen im Chat als „wohl strukturiert“ lobte. Ja, sehr gut strukturiert war dieser Vortrag insbesondere in seiner doppelten Ambition und ihrer anregenden Verknüpfung. Wie anregend dies war, sollte sich in der anschließenden Diskussion zeigen. Die doppelte Ambition zeigte sich in
abwechselnden Passagen, die
- entweder im Stil einer akademischen Vorlesung auf eine Vermittlung von
wissenschaftlich gewonnenem Wissen zielten, - oder im Stil eines Impulsvortrags eine Diskussion befördern wollten, deren Ergebnisse der Referent nicht mit einer angemaßten Autorität vorwegnehmen wollte.
Ein derart strukturierter Vortrag kann eine produktive, weiterführende Diskussion auslösen, ohne dafür Widerspruch zum Vorgetragenen zu provozieren. So war es in der zweiten Stunde unserer Veranstaltung.
Widerspruch erreichte mich erst später, am Tage danach. „Zu optimistisch“ sei der Referent gewesen, schrieb ein mir ein Teilnehmer, der zugleich aber keiner Aussage des Vortrags widersprechen wollte und, so kann ich mir vorstellen, sich vielleicht auch deshalb nicht zu Wort gemeldet hatte, was unser Gespräch aber nur bereichert hätte. Wie optimistisch wir sein dürfen, ist doch eine berechtigte Frage, zu der uns ein Austausch bereichern können sollte. Ein
anderer monierte, dass die Ursachen der großen Fehlentwicklungen, die uns die Umwelt- und Klimakrise und mit ihnen den enormen Transformationsbedarf gebracht hätten, nicht hinreichend angesprochen worden wären. Auch das ist ein Themenkomplex, auf den wir mit
Erkenntnisgewinnpotentialen zurückkommen können sollten.
Auf dem Forum gab es nun, wie aufzuzeigen ist, aus nachvollziehbaren Gründen nur wohl begründete Fragen, mit denen auf dem Weg weitergedacht werden sollte, den der Referent vorgezeichnet hatte. „Riesengroße Fragen“, nannte der Referent diese Fragen, was nicht als Kritik der Fragen verstanden werden konnte, hatte er selbst doch mit dem Titel und Thema seines Vortrags auch keine Bemühung erkennen lassen, erkannte große aktuelle
Herausforderungen als kleinere Fragenkomplexe erscheinen zu lassen.
Gefragt wurde u.a. nach einem neuen Verständnis unternehmerischen Denkens im Kontext der sozio-ökonomischen Transformation, nach „demokratischen Unternehmen“, nach Mazzucatos „Entrepreneurial State“, nach der Einordnung der an deutschen Hochschulen lehrenden Ökonomen in eine „Mainstreamökonomie“ oder deren Überwindung, nach neuen Zielbildern
der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre in Hochschulen. Die gedankliche Entwicklung dieser „riesengroßen Fragen“ und ihre Beantwortung, auch nur in Ansätzen, verlangte ihre Zeit. Der Referent antwortete immer direkt. Neun Fragen konnten so vorgestellt und in Ansätzen beantwortet werden. Sieben der neun (ein deutlich größerer Anteil als auf früheren Foren!) kamen von jungen Teilnehmerinnen des Forums, von Studierenden und jungen Alumni, die ihr
Studium nach dem Bachelor noch fortsetzen.
Durch ihre sehr fokussierten Fragen wurde deutlich, wie sie den Vortrag für sich verstanden hatten, dass sie die vermittelten Einsichten weiterdenken und ganz konkret auf sich beziehen wollten --- auf ihre Generation, auf das Verstehen richtiger neuer Leitbilder und relevanter Gütekriterien wirtschaftlicher Aktivitäten und ganz besonders auf die Qualität ihrer diesbezüglichen Ausbildung. Die Dominanz der Jungen in der Diskussion dieses Vortrags war damit gut nachvollziehbar. Sie war der Tatsache geschuldet, dass die aufgerufene Transformation als Projekt von Dekaden i h r Projekt ist, also ein Projekt, in dem s i e sich bewähren und für das s i e gut ausgebildet sein wollen.
Die Fragen waren ein lautes Nachdenken derer, die sich angeregt durch den
Vortrag fragten, ob sie in ihrem Studium die Fähigkeiten erlernen und die Motivationen entwickeln könnten, die in der sozio-ökologischen Transformation gebraucht werden. Der BWL-Student Michael Ehlers hatte den Referenten sehr richtig verstanden, als er ihn fragte, ob er nicht eine Gefahr sähe, dass eine anstehende sozio-ökologische Transformation nicht gut
gestaltet werden könne, wenn sich wirtschaftswissenschaftliche Ausbildungsprozesse an dieser Mainstreamökonomie orientierten und Studierenden gar nicht bewusst wäre, welcher Denkschule oder Ideologie sie hier folgten. Als langjährig erfahrener leitender Manager unterstützte Dr. Lappin die Fragenden mit einem Plädoyer zum politischen Denken und zum Engagement in politischen Prozessen, so wie er es als Referent auf dem 54. Forum Politik
und Wirtschaft im August 2021 ausführlicher vorgetragen hatte.1 Seine Einlassung richtete sich gegen alle, die in aktuellen Arbeiten zu Zielbildern für Hochschulen nicht explizit und wohl begründet auf das Bologna-Bildungsziel „education for democratic citizenship“ eingehen. Sei es versehentlich unbewusst oder weil noch nicht verstanden wird, wie wichtig dies für die
Erfolgschancen der anzustrebenden Transformationsprozesse ist.
Dr. Loske sah für deutsche Hochschulen noch „viel Luft nach oben“, wenn es um die gebotene Abwendung von der langjährigen „Mainstreamökonomie“ ginge. Als positive Beispiele verwies er konkret auf die beiden ihm wohl vertrauten Hochschulen in Witten-Herdecke und in Koblenz, die für sich den Namen Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung gefunden hat. Und
generell plädierte er für eine Stärkung der pluralen Ökonomie und ein deutlich fachübergreifend angelegtes Studium.
Alle aufgerufenen Fragen hatten einen Bezug zur Mainstreamökonomik und zu
Entwicklungsaufgaben ökonomischer Wissenschaften2. Mit einer seiner Folien hatte Dr. Loske acht Theoretische Konstrukte und Grundorientierungen der Mainstreamökonomik vorgestellt, die heute eine systematische Ausrichtung am Prinzip der sozial-ökologischen Transformation erschweren oder unmöglich machen. 3 Diese fehlorientierenden Theoreme hatten die Diskussion stimuliert und nicht nur zu Verständnisfragen geführt. Entwicklungen
Nach vorne blickend präsentierte der Referent mit weiteren Folien u.a.
- Plurale Ökonomien, Verschiedene Ökonomien mit Zukunft, neue
Mischverhältnisse primär technologiegetriebener, lebensstilgetriebener
oder kooperationsgetriebener Ökonomien. Ferner auch - Diffusionsmuster zukünftiger Entwicklungen, sprich verschiedene Muster
für das Herauswachsen sozial und ökologisch wünschenswerter Praktiken
aus der Nische in den gesellschaftlichen Hauptstrom4.
Auf die abschließende, für seinem Vortrag logische letzte Frage „Wie weiter?“ hatte der Referent nicht mit einer Prognose und auch nicht mit einem programmatisch angeblich vorzugswürdigen Konzept geantwortet. Stattdessen mit acht Ausblicken auf acht verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten, die er sich so oder so dimensioniert und kombiniert vorstellen kann, womit er zur Diskussion anregen wollte und erneut auf die Bedeutung politischer
Willensbildung und auch politischer Verständigungsprozesse hinwies5. Das bleiben für uns über den Tag hinaus wertvolle Impulse. Worum es Reinhard Loske geht, sagt auch prägnant der Titel seines neuen kurzen Buches, das noch in diesem Frühjahr im Verlag Basilisken-Presse erscheinen soll: Die Ökonomie(n) der Zukunft. Jetzt zusammendenken, was zusammengehört!
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Studierende und Alumni der NORDAKADEMIE haben die Möglichkeit, die hier angesprochenen Themen im Seminar Politik und Wirtschaft --- Basiswissen und -kompetenzen für Querdenker:innen zu reflektieren und zu diskutieren.
1 https://www.nordakademie.de/news-media/news/welchem-geist-sehen-wir-das-marktprinzip-finanzvorstand-der-hhla-thematisiert-aktuelle Grundsatzfragen
2 Zu Ansätzen in der Betriebswirtschaftslehre siehe jüngst https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/bwl-studium-die-betriebswirtschaftslehre-braucht-neue-inhalte-17410450.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
3 Loske benannte mit der erläuterten 11. Folie acht in die Irre führende theoretische Konstrukte und Grundorientierungen der Mainstreamökonomik:
• Der Homo oeconomicus als effizienter Nutzenmaximierer
• Gewinnerwirtschaftungs- / Wachstums- / Akkumulationszwang
• Wettbewerbsidealisierung und Kooperationsaversion (Warnung vor „Free Rider-Verhalten“)
• Staat und Politik als einzuhegende „Marktverzerrer“ („Marktkonforme Demokratie“)
• Die Annahme von vollständiger Information für alle und das Ignorieren von Machtasymmetrien
• Präferenz für Gegenwartskonsum („Diskontierungsnebel“)
• „Gemeinwohl“ als Summe individueller Nutzenmaximierungen
• Substituierbarkeit von Natur(„kapital“) durch (menschgemachtes) Kapital (Leugnung „absoluter“
Grenzen)
4 Zu diesen „Diffusionsmustern siehe die Seiten 86-94 in Reinhard Loske: Politik der Zukunftsfähigkeit. Konturen
einer Nachhaltigkeitswende, Frankfurt a.M., 2015. 5
• Global Governance (Mehr Völkerrecht und Multilateralismus)?
• Decentralisation (Mehr Lokalisierung und „Grassroots Activism“)?
• Degrowth (Abkehr vom Wachstum)?
• Sufficient Lifestyles („Mehr Zufriedenheit aus Weniger ziehen“)?
• Green Growth (Ökologische Modernisierung durch Technologie)?
• Sustainable Finance (Begrünung von Finanzströmen)?
• Climate Justice, Fair Trade, Green Trade (Neue Weltwirtschaftsordnung)?
• Climate Cases (Klagen gegen „Klimasünder“)?
• System Change (Von der Profit- zur Gemeinwohlorientierung)?
… von allem etwas