Zum Ende seines Vortrags präsentierte der Referent Dr. Felix Matthes, leitender Forschungskoordinator für Klima- und Energiepolitik im Öko-Institut, einen (so oder so folgenreichen) konkreten Vorschlag für bedeutsame praktische Politik. Zum „so oder so“ ein Wort zum Schluss. Der Vorschlag zeigte: hier hatte ein breit aufgestellter Wissenschaftler, ein promovierter Politikwissenschaftler und Diplomelektroingenieur gesprochen, mit all seinen Erfahrungen in diversen politikberatenden Projekten und mit einem guten Auge für Aufgaben, die nur mit neuen Arbeitsformen ins Blickfeld kommen und bearbeitet werden können. Matthes´ Vorschlag: eine Enquete-Kommission „Klimaneutralität“ des Deutschen Bundestages in der kommenden Legislaturperiode, also nach der im September anstehenden Bundestagswahl.
Gut möglich, dass wir diesen erstmals vorgetragenen Vorschlag bald als Nachricht in den Medien finden können. So er verstanden wird. Sei es von Journalistinnen, die für sich den Ehrgeiz und Anspruch haben, wegweisende neue Gedanken in der Energie- und Klimapolitik schnell zu erfassen und zu vermelden. Oder sei es, dass Politiker*innen den Vorschlag aufgreifen, weil sie das Neue und Wegweisende dieses Vorschlags erkennen und Medien dann darüber berichten.
Das Neue und Wegweisende dieses Vorschlags erfasst man nicht, wenn man seine gedankliche Herleitung und Begründung nicht nachvollzieht. In dieser gedanklichen Herleitung und Begründung manifestierte sich die große Qualität des Vortrags des Forschungskoordinators, der auch über umfassende Erfahrungen in politikberatenden Kommissionen und Institutionen verfügt und diese auch kritisch zu reflektieren weiß, auch selbstkritisch. Derzeit ist er u.a. Mitglied im Nationalen Wasserstoffrat, zuvor u.a. in der sogenannten Kohlekommission oder in der Advisory Group der Europäischen Kommission zur Energy Roadmap 2050.
Der Vortrag sollte aufzeigen, warum derzeit für eine neue Phase der Energiewende neue Politikansätze erforderlich sind. Mit dem 2022 abgeschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie sowie der bis 2030 absehbaren Beendigung der Kohleverstromung in Deutschland (und Europa) stehe die Energiewende, so Matthes, vor einer neuen Phase, insbesondere mit Blick auf das deutsche und europäische Ziel der Klimaneutralität bis spätestens 2050. Die nun vor allem anzugehenden Herausforderungen seien vor allem durch eine neue Qualität struktureller Veränderungen (Kapitalintensität, Koordinationsnotwendigkeiten, Infrastrukturabhängigkeit, Akzeptanzsensitivität, Diversität von Entscheidungskalkülen, internationale Einbettung etc.) sowie durch eine „neue Unübersichtlichkeit“ bei Entwicklungsoptionen und Akteuren gekennzeichnet. Damit würden neue Ansätze für Strategiebildung und Politikformulierung unabdingbar. Der Referent wollte diskutieren, ob und inwieweit dafür der Rückgriff auf entsprechende Ansätze, die in der Frühphase der Energiewendediskussion und -politik eine maßgebliche Rolle gespielt haben, produktiv gemacht werden könne. Damit nahm er Arbeiten ins Blickfeld, an denen der Verfasser als Initiator und Vorsitzender der ersten energiepolitischen Enquete-Kommission beteiligt war.
Wer den Vortrag im online-Forum gehört hat, wird ihn gerne noch einmal nachlesen. Diesen Wunsch haben mir viele der gut 40 Teilnehmer*innen vermittelt. Das ist jetzt möglich. (Einen Link zur Präsentation finden Sie hier.) Viele werden die Präsentation auch lesen, ohne den Vortrag und die anschließende Diskussion, in der manches Detail erhellt werden konnte, gehört zu haben. Wer diese Lektüre wagt, darf sich auf eine höchst verdichtete, wohl geordnete Vielfalt von Themen einstellen. Mit seinem Vortrag schenkte uns der Referent ein Bild aktuell erkennbarer Herausforderungen und eine mehr als bedenkenswerte Reflexion, wie wir mit ihnen umgehen sollten. Ich wüsste nicht, wo diese Herausforderungen der Energiewende-Politik jemals zuvor so konzise aufbereitet und aufgabenorientiert interpretiert worden wären, wie in dieser Präsentation.
Falsch wäre freilich jeder Versuch, diese Präsentation in einem kurzen Bericht komprimiert darzustellen, der ihr Studium ersetzen können wollte. Dafür ist die Präsentation zu komplex, zu verdichtet, zu reich an Aspekten, die nicht ausgeblendet werden dürfen, und auch, kurz gesagt, alles andere als leichte Kost. Was man zur Vermittlung der Kerngedanken komprimieren kann, hat der Referent schon selber so weit wie möglich geleistet. Mit großer Zuversicht in unser Vorwissen oder unsere Bereitschaft, uns einzuarbeiten. Zum Beispiel in seiner Auflistung von Herausforderungen in der neuen Phase der Energiewende. Da nannte er:
Wie soll man eine solche Auflistung noch komprimieren, wo doch jede Aussage eher eine Überschrift für einen Komplex ist, der schon für sich eine tiefergehende Reflexion nahelegt? Hinzu kommt die Aufforderung, energiepolitische Arbeitsprozesse so anzulegen, dass diese Komplexe damit erkennbar bestmöglich zusammengeführt werden. In diesem aufgabenorientierten Ausblick lag der Kern der Botschaft des Vortrags.
Die meiste Zeit widmete der Referent der Interpretation und Vermittlung der zitierten und weiterer Herausforderungen. Das war wohl durchdacht, denn nur so konnte er nachvollziehbar aufzeigen, was ihn zu seinem Plädoyer für neue Diskursformate gebracht hatte und ganz konkret für die genannte Enquete-Kommission nach der kommenden Bundestagswahl. Dieses Plädoyer beruht auf Einsichten in gebotene Verbindungsleistungen, in gebotene kooperative Reflexions- und Kommunikationsprozesse. Damit werden notwendige, bislang zu wenig anerkannte kooperative Leistungsziele vorausgesetzt, die wir keiner Disziplin zuordnen und deren Anerkennung wir von Akteuren positioneller Politik nicht erwarten können. Das verweist auf Aufgaben, die in der Diskussion über den Vorschlag auch angesprochen wurden.
Dr. Matthes argumentierte für "neue Diskursformate auf der politischen/analytischen Ebene".
Neue Diskursformate? Dieser Begriff erwies sich auch in der Diskussion auf dem Forum als erkennbar erklärungsbedürftig. Es lohnt sich aber, sich darauf einzulassen. Für die Praxis (nicht nur der politischen Kommunikation) geht es um die Schlüsselkompetenz, einen kommunikativen Umgang mit Pluralität und Kontroversen optimieren zu können. Auch im Wissen um die Widerstände derer, die in ihrer energiepolitischen Arbeit (seien es politische, wissenschaftliche oder lobbyistische Akteure) so weitermachen wollen, wie in den vergangenen Jahren. Für unser Seminar Politik und Wirtschaft im Studium generale der NORDAKADEMIE ist das eine immer wieder thematisierte Basiskompetenz. [1]
Schon mit seinem Abstract hatte der Referent angekündigt, in seinem Vortrag die Frage aufzuwerfen und zu beantworten, ob in diesen Jahren für einen aufgabengerechten Umgang mit den erkennbar komplexen Herausforderungen auf Ansätze zurückgegriffen werden könne, die in der Frühphase der Energiewendediskussion und -politik eine maßgebliche Rolle gespielt hätten, sprich: ob diese Ansätze jetzt wieder produktiv gemacht werden könnten.
In seinem Vortrag hatte Dr. Matthes in den ersten Minuten, bevor er sich streng an seine Präsentation als Vortragsgrundlage hielt, schon einen Hinweis auf 1980 gegeben, den er nicht weiter erläuterte, der aber Spannung erzeugte, zumindest bei denjenigen, die sich in der Geschichte der Methodik der deutschen Energiepolitik auskennen. 1980? Welche Einsicht könnte 1980 umgesetzt worden sein, die uns heute hülfe, mit den komplexen, aus der Sicht Matthes´ im Vergleich zu damals noch komplexeren Herausforderungen umzugehen? Auf der Seite 13 seiner Präsentation zitiert Dr. Matthes einen Satz aus dem Bericht der ersten energiepolitischen Enquete-Kommission, einen Satz des damaligen Kommissionsvorsitzenden zum Selbstverständnis der Kommission.[2]
Alles was sich in dem zitierten Satz auf die damals geführte komplexe Kontroverse zur Kernenergie bezog, hatte Dr. Matthes in der Druckfarbe vom Schwarz in ein schwaches Grau verwandelt, um beim Vorlesen des Zitats dort dann im Vortrag die heute aktuellen Herausforderungen einzusetzen. Der Kern des Satzes ist die Einsicht in das Gebot des gemeinsamen Abwägens in Situationen, die durch komplexe, unübersichtliche Kontroversen und einen Bedarf für langfristig tragfähige breit getragene Handlungskonzepte gekennzeichnet sind. So war die Situation 1979/80, so sieht Dr. Matthes sie auch heute, heute eher noch komplexer.
Gemeinsam abwägen kann man nur dann, wenn vorher ein gemeinsames Verständnis der im Raume stehenden Optionen und der relevanten Bewertungskriterien erarbeitet wurde. Und nur dort, wo es angestrebt wird. Dafür brauchen wir Institutionen, worauf Dr. Volker Hauff hinwies, Teilnehmer unseres Forums und Bundesminister für Forschung und Technologie des Jahres 1980. Und Dr. Matthes akzentuierte einen Bedarf für politische Führung, die auf komplizierte Abwägungsprozesse hinwirkt. Ein gemeinsames Abwägen-Können in komplexen Kontroversen ist damit höchst voraussetzungsvoll.
Wer auch nur wenige Berichte von Enquete-Kommissionen studiert hat, zuletzt den zur Künstlichen Intelligenz, weiß, dass es für Enquete-Kommissionen keineswegs selbstverständlich ist, so zu arbeiten. Das verweist auf Randbedingungen, die herzustellen sind, und auf viele erforderliche oder nützliche Vorarbeiten. Wir haben ja schon viele Enquete-Kommissionen erlebt, deren Einsetzung im Grundsatz einer guten Idee entsprach, die dann aber nicht gut arbeiten konnten, weil den Beteiligten und auch vielen in ihrem Umfeld das Verständnis für kooperative Leistungsziele und Gütekriterien einer guten Enquete-Kommissionsarbeit fehlte. In der Folge fehlten die gemeinsam abzuwägenden Optionen. In der Perspektive der von Dr. Matthes angeregten Enquete-Kommission “Klimaneutralität“ können Stiftungen, Ministerien und insbesondere wissenschaftliche Institutionen in den kommenden Monaten viele Möglichkeiten entdecken und nutzen, um eine erfolgreiche Umsetzung des Matthes´schen Vorschlags zu befördern.
Damit komme ich zum eingangs formulierten „so oder so“ und meiner These zurück: So oder so wird der im Forum der NORDAKADEMIE vorgetragene Vorschlag von Dr. Matthes bedeutsame Folgen zeitigen. Drei Szenarien:
*
Für Bachelor- wie Masterstudierende der Hochschule und Alumni besteht die Möglichkeit, die im 53. Forum angesprochenen Themen wieder aufzunehmen und zu vertiefen: im Seminar Politik und Wirtschaft – Basiswissen und -kompetenzen für Querdenker.
[1] vergl. dazu R. Ueberhorst Gesellschaftliche Politikfähigkeit und diskursive Politik – Ziel und Entwicklungsaufgaben. In: Georg Plate (Hrsg.): Forschung für die Wirtschaft. Shaker, Aachen,2011, S. 173–194; ders. Brauchen wir einen Neuen Gesellschaftsvertrag für unsere gesellschaftliche Politikfähigkeit? In: Georg Plate (Hrsg.): Forschung für die Wirtschaft 2012. Cuvillier, Göttingen 2012, S. 287–314; ders. Über den Umgang mit nicht beliebigen kooperativen Leistungszielen im Arbeitsprozess der wachstumspolitischen Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages (2011-2013). In: Georg Plate (Hrsg.): Forschung für die Wirtschaft 2013. Cuvillier, Göttingen, 2013 S. 315–341
[2] Vorgetragen auf der konstituierenden Sitzung der Kommission am 9. Mai 1979. Abgedruckt in: Zukünftige Kernenergie-Politik. Kriterien-Möglichkeiten-Empfehlungen, Deutscher Bundestag 1980, Bd.1, S.13 f