In kürzester Zeit hatten Professor Unruh und ich schon 2019 eine Absprache zu dieser Veranstaltung am 4. November 2020 erreicht. Da ahnten wir noch nicht, dass es eine Online-Veranstaltung werden müsste. Ich hatte ihm mit meiner Anfrage die Ziele der Veranstaltungsreihe Forum Politik und Wirtschaft vorgestellt.
Sein Angebot, über Immanuel Kant und Weltföderalismus, also über das Anregungspotenzial von Kants Friedensschrift zu sprechen, passte zu hundert Prozent in das Konzept dieser Veranstaltungsreihe, die am Leitbild eines aufgabenorientierten, zeitgemäßen Studium generale orientiert ist [1].
Damit geht es insbesondere um Orientierungswissen, um interdisziplinäre Diskursfähigkeit und um unsere Befähigung zu gesellschaftlicher Teilhabe, Engagement und Verantwortungsbewusstsein. Alles dies sollte, wie wir erfahren haben, mit dem von Professor Unruh entfalteten Thema aufgerufen werden.
[1] Vergl. ausführlicher vom Verfasser „Grosse gesellschaftliche Herausforderungen“ und das aktuelle Anregungspotenzial philosophischer Werke aus früheren Zeiten im Studium generale, Nordblick 4, 2017, 78-94
Immanuel Kant und der Weltföderalismus
Seine Dissertation hat Peter Unruh über Kants Staatsphilosophie geschrieben. Mit dem Titel Die Herrschaft der Vernunft: Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants ist sie 2016 in zweiter Auflage erschienen. Auch nach seiner Dissertation hat er sich kontinuierlich in Studien und Publikationen immer wieder mit diesem Denker der Aufklärung beschäftigt. Der habilitierte Rechtswissenschaftler ist ein ausgewiesener Kant-Kenner. Das konnten nun auch alle erfahren, die ihn erstmals trafen und seinem fast einstündigen Vortrag folgten.
Eine Neigung zur Vereinfachung der Kant´schen Gedanken wurde nicht erkennbar. Wohl aber ein Bestreben, der feinsinnigen Architektur des Kant’schen Entwurfs gerecht zu werden. Es war ein Vortrag, den man gerne nachlesen möchte. Das können wir jetzt. Der entsprechende Link steht am Ende meines kleinen Berichts.
Im letzten Satz seines Vortrags bedankte sich der Vortragende bei seinen Zuhörerinnen für (deren) weit über Gebühr beanspruchte Aufmerksamkeit. Das war keine Höflichkeitsfloskel. Wer dem Vortrag gefolgt war, hatte fast eine Stunde sehr konzentriert zuhören müssen. In der Anlage seiner Ausführungen war der Redner erkennbar
- nicht nur bestrebt, den Text von Kants Schrift Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf in allen wichtigen Gedankenschritten, Argumenten und Unterargumenten vorzustellen,
- sondern ihn auch kritisch zu analysieren
- und für unsere Zeit zu reflektieren, wie ein im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts veröffentlichter Text uns im 21. Jahrhundert Orientierung gebe könnte, für unsere Gegenwart und Zukunft.
- Dafür präsentierte der Redner (statt einer scheinbar schlüssigen Zusammenfassung des Gesagten) zum Abschluss acht zum Nachdenken anregende Thesen.
Diejenigen, für die das Thema neu war, hatten die Chance, nach einer exzellenten Einführung berechtigte Lernfragen zu stellen. Diese Chance wurde verhalten genutzt.
Prof. Dr. Unruh
Wer sich schon vor dem Vortrag mit Kants Friedensschrift beschäftigt hatte, sah sich mit einer anspruchsvollen, spezifischen Interpretation konfrontiert. Spezifisch war insbesondere die Argumentation des Referenten, der mit einer „evolutionären Entwicklung“ im Sinne von Kant rechnen mochte, dafür aber „ein gemeinsames Engagement der Menschheit“ postulierte. Dies wurde zustimmend und auch skeptisch-kritisch diskutiert. Zustimmend zum Ziel ausgebauter supranationaler Organisationen mit globaler Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungsbefugnis.
Kritisch im Hinblick auf zu viel Vertrauen in eine nur philosophisch aufgezeigte Entwicklungsmöglichkeit und die Orientierungskraft ihrer Argumentation.
Gefragt wurde, ob es nicht wirklichkeitsfremd sei, von einer fruchtbaren Arbeitsteilung zwischen orientierender Theorie und aufnehmender Praxis auszugehen. Ob diese Vorstellung nicht wichtige Aufgaben verkenne, eben die, die nur gut in gemischten Arbeitsformen erkannt und bearbeitet werden könnten.
Noch nie haben mich so viele „Diskussionsbeiträge“ wie diesmal erst über die Tage nach dem Forum erreicht. Das sei auch kurz berichtet. Vielleicht muss man manchmal eine starke Kost sacken lassen können, vielleicht noch ein wenig länger nachdenken, bevor man sich zu einem anspruchsvollen Vortrag äußert. Insbesondere dann, wenn man einer vorgestellten Argumentation für einen denkbaren Weg zum Weltfrieden und zur gemeinsamen Lösung globaler Probleme nicht widersprechen möchte, aber auch keine Zuversicht gewonnen hat, dass dieser Weg mit der vorgestellten Argumentation erreicht wird.
Dies verweist auf das Problem, das in Ansätzen auch schon in der online geführten Diskussion deutlich geworden war und das unser Referent in der letzten seiner acht Thesen mit einer bedingten Prognose wie folgt angesprochen hatte:
„Es steht nicht zu erwarten, dass der den Frieden, die Freiheit, die (Rechts-) Sicherheit sowie die ökonomische und ökologische Gerechtigkeit sichernde Weltföderalismus in absehbarer Zeit Wirklichkeit wird. Auch wenn sich mit der UNO und vor allem der EU - bei allen Unzulänglichkeiten und Rückschlägen - einige „Geschichtszeichen“ ausmachen lassen, die in diese Richtung weisen, ist im Sinne Kants mit einer evolutionären Entwicklung zu rechnen, die einen langen historischen Atem, dabei aber schon jetzt das gemeinsame Engagement der Menschheit erfordert.“
Die Prognose ist schlüssig, wenn das für sie vorauszusetzende Engagement angenommen werden darf. Darf es? Oder müssen wir darauf kreativ klüger hinwirken?
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Für Bachelor- wie Masterstudierende der Hochschule und Alumni besteht die Möglichkeit, die im Forum erkannten Fragen wieder aufzunehmen und zu vertiefen: im Seminar Politik und Wirtschaft – Basiswissen und -kompetenzen für Querdenker.