Die Aussage, dass der Kapitalismus unendliches Wirtschaftswachstum fordert, ist einerseits nicht falsch, wobei der "Kapitalismus" selbst nichts fordern kann, sondern nur ein Prinzip der Kapitalansammlung in marktwirtschaftlichen Systemen beschreibt. Aber Investoren und Unternehmen, die in diesem System versuchen ihr Geld zu mehren, setzen dabei sicherlich auch auf Wirtschaftswachstum, weil ein wachsender Kuchen mehr bietet, als ein schrumpfender, um den sich dann alle streiten müssen.
Die Suche nach fortwährendem Wirtschaftswachstum ist allerdings in anderen Wirtschaftssystemen, etwa dem Sozialismus, genauso erklärtes Ziel, um materiellen Mangel aufzuheben; im Kapitalismus, der auf individuellen Antrieb setzt, konnte dieses Ziel jedoch bisher viel wirkungsmächtiger umgesetzt werden. Volkswirtschaftlich betrachtet sollte das Wirtschaftswachstum auch in kapitalistisch geprägten Ländern nicht ungezügelt sein, sondern besser moderat, stabil und stetig im Einklang mit anderen volkswirtschaftlichen Zielen wie etwa geringer Inflation, Vollbeschäftigung und ausgeglichenen Handelsbilanzen (da haben wir mit unseren Exportüberschüssen derzeit ein großes, wachstumsbedingtes Problem, das zur Überschuldung anderer Länder beiträgt, insofern wäre zum Beispiel eine Verringerung von Waffen- oder Agrarexporten auch volkswirtschaftlich durchaus sinnvoll).
Die vielleicht entscheidendere Frage: Wozu ist das Wirtschaftswachstum überhaupt gut? Zum einen ist Wirtschaftswachstum weltweit betrachtet erforderlich bei einer wachsenden Weltbevölkerung, um Armut zu vermeiden. Dabei lehrt die Erfahrung: Das Bevölkerungswachstum lässt sich nur stoppen, indem die Armut verringert wird. Dann brauchen wir Wachstum in Deutschland, um bei steigender Lebenserwartung und demographischem Wandel die Renten bezahlen zu können. Auch die steigenden Staatsausgaben insbesondere für den Hauptposten „Arbeit & Soziales“ müssen erwirtschaftet werden. Zudem erhöht Wirtschaftswachstum die Teilhabemöglichkeiten von Arbeitenden am Volkseinkommen durch bessere Jobchancen. Denn bedingt durch den technischen Fortschritt und daraus folgenden Rationalisierungsmöglichkeiten würde die Anzahl benötigter Voll-Arbeitsplätze bei gleichbleibendem Volkseinkommen immer weiter abnehmen.
Wirtschaftswachstum entspringt dem technischen Fortschritt und den damit erweiterten Möglichkeiten, neue innovative Produkte und Dienstleistungen anzubieten, damit werden dann neue Arbeitsplätze geschaffen, die durch Rationalisierungen anderswo entfallen. Ein weiterer Grund für Wachstum besteht darin, dass Unternehmen als Kreditnehmer Zinsen erwirtschaften müssen, das spielt bei den derzeitigen Zinsen in Europa allerdings fast keine Rolle mehr.
Um die berechtigten Forderungen der Fridays-for-Future-Bewegung zu entsprechen, können wir bzgl. Wirtschaftswachstum zwei Wege (auch gleichzeitig) einschlagen.
Der eine Weg ist die Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Raubbau an der Umwelt und damit vom Verbrauch an fossilen Brennstoffen und weiteren Rohstoffen, insbesondere die Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom CO2-Ausstoß. Das ist technisch möglich und wirtschaftlich eigentlich attraktiv. Es wird aller Voraussicht nach sogar wirtschaftlich noch stärker zu einem der Hauptwachstumsfelder werden, insbesondere durch den Ausbau Erneuerbarer Energien und eine Kreislaufwirtschaft, in der nicht alles einfach weggeworfen, sondern sinnvoll wiederwendet wird. Das sind zentrale Wachstumstreiber der Zukunft, die ökonomisches Wachstum in einer endlichen Welt bis auf weiteres ermöglichen, wenn die Politik hier endlich die richtigen Weichen stellt.
Der andere Weg liegt darin, dass wir, bzw. alle die sich dies leisten können und wollen, Zeitwohlstand einkaufen. Bedeutet, die persönliche Erwerbsarbeit zurückfahren ohne Lohnausgleich, entweder durch Teilzeitjobs, Sabbaticals, Weiterbildungsphasen oder generell kürzere Arbeitszeiten. Im Ergebnis hat der einzelne weniger Geld, aber mehr freie, selbstbestimmte Zeit. Das ist für Familien bei derzeitigen Mieten in Ballungsräumen oft schwer umsetzbar, in ländlichen Regionen Mecklenburgs aber zum Beispiel auch bei durchschnittlichem Einkommen und Garten mit ein bisschen Selbstversorgung und Nachbarschaftshilfe durchaus machbar und für viele Menschen attraktiv.
Nun streiten sich die Ökonomen (zumindest die, die das o.a. Grundproblem nicht einfach ignorieren), welcher der beiden Wege der bessere ist. Aus meiner Sicht schließen sich beide Wege überhaupt nicht aus. Ein „sowohl als auch“ eröffnet uns weitere Wahlmöglichkeiten, die uns der Kapitalismus ja auch in anderen Bereichen reichlich eröffnet hat. Auf den Kapitalismus würde ich also nicht verzichten wollen und ich halte ihn auch für kompatibel mit dem Klimaschutz, wenn die Marktrahmenbedingungen passen und das bedeutet in erster Linie, ein CO2-Preis von mindestens 100 Euro je Tonne, mit weniger sollten wir uns alle nicht abspeisen lassen. Der Kapitalismus ist robust und flexibel genug, sich darauf einstzustellen und seine Wachstumsmöglichkeiten darin zu finden. Darin liegt ja gerade seine Stärke.
Prof. Dr. Holger Petersen hält eine Professur für Nachhaltigkeitsmanagement an der NORDAKADEMIE Hochschule der Wirtschaft.