Als ich Dr. Lappin, den Finanzvorstand der HHLA, um einen Vortrag für unser Forum Politik und Wirtschaft bat, übermittelte er eine schnelle Zusage und einen langen Titel. Eindeutig den längsten aller bisherigen 54 Foren. Lang wurde der Titel deshalb, weil der Referent eine Vielzahl von Erkenntnissen, Absichten und Impulsen schon im Titel herausgestellt haben, zu zwei gegenläufigen Fragen verbunden und auf einen längeren Zeitraum bezogen sehen wollte. Der lange Titel lautete: Post-Lehman: Bedarf der Einsatz des exzessiv neoliberalen Marktprinzips einer grundsätzlichen Neubewertung, oder?
Ein Kürzungsversuch kam nicht in Betracht. Schon aus prinzipiellen Gründen, weil alle Referenten der Foren selbstverständlich die Freiheit haben, ihren Titel selbst zu formulieren, jedenfalls solange er in den Themenraum passt, den wir mit dieser Veranstaltungsreihe adressieren wollen. Das Thema muss das Beziehungsfeld Politik und Wirtschaft erfassen und auf Herausforderungen verweisen, die wir – aus der Sicht der Referenten – besser verstehen und mit denen wir besser umgehen können sollten.
Genau das strebte Dr. Lappin mit seinem Titel an. Eben damit kam seine Länge zustande. Es sollte wohl verknüpft und in einem bestimmten Zeitraum um zwei Fragen gehen: um den Bedarf für eine Neubewertung eines neoliberalen Marktprinzips und um die Gegenfrage, ob dieser Bedarf begründet wäre. Zur Beantwortung der Fragen sollten einbezogen werden: wirtschaftshistorisches Wissen, ordnungspolitische und ethische Reflexionen, weiter auch unser Anspruchsniveau an unsere gesellschaftliche Willensbildung und Politikfähigkeit und unsere Bereitschaft, uns gemeinwohlorientiert in demokratische Prozesse einzubringen.
Dr. Roland Lappin, Finanzvorstand der HHLA, regte mit seinem Vortrag zu einer inspirierenden Diskussion an
Dem Referenten war die Herausforderung seines Titels wohl bewusst. Ohne danach gefragt worden zu sein, erklärte er seinen nicht alltäglichen Begriff „Post-Lehmann“. Schon vor der Veranstaltung hatten mich dazu Nachfragen von Studierenden erreicht. Verständliche Nachfragen. Wer altersbedingt 2008 noch keine Nachrichten verfolgen konnte oder sich danach nicht mit der Geschichte der damaligen Banken- und Finanzkrise beschäftigt hat, kennt die damals untergegangene Lehmann-Bank nicht. Hier stand der Begriff „Post-Lehmann“ als Zeitraumbotschaft am Anfang des Titels für den Vortrag. Der Referent war erkennbar bemüht, diesen Begriff und alle anderen Bausteine aus seiner Themen- und Titelkonstruktion gut zu erläutern.
Meine Freude über das von Dr. Lappin für unser Forum entwickelte Thema habe ich auf der Veranstaltung nicht verborgen und will sie hier gerne noch einmal bekräftigen. Der fast einstündige Vortrag kann und muss dafür nicht detailliert nachgezeichnet werden. Dr. Lappin hat uns freundlicherweise sein Manuskript zur Verfügung gestellt.
Ich möchte im Rückblick festhalten, was uns diese Veranstaltung durch den Vortrag und seine Diskussion vermittelt hat, was wir gewonnen haben und wie wir damit weiterarbeiten können. Wer nicht teilnehmen konnte und am Thema interessiert ist, sollte das Manuskript nachlesen. Aber auch wir, die den Vortrag gehört haben, können gut noch einmal hineinschauen. Sei es um Impulse aufzunehmen oder auch um herauszufinden, wo uns welche gedanklichen Ansätze weiterentwicklungsbedürftig erscheinen. Letzteres wäre ganz im Sinne des Referenten, der solche Bedarfe nicht in Abrede gestellt sehen wollte.
Erstmals dabei war Dr. Frank Schuhmacher, der jüngst auf die Professur für Mechatronik im Fachbereich Wirtschaftsingenieurwesen der NORDAKADEMIE berufen wurde. Sein Feedback nach der Veranstaltung, dass die Studierenden der NORDAKADEMIE mit diesem Forum „die Chance erhalten, über den Tellerrand hinauszusehen", erfasst exakt die Absicht, mit der diese Veranstaltungsreihe seinerzeit mit dem Gründungspräsidenten Prof. Plate verabredet wurde. Dieser Vortrag des Finanzvorstands eines Kooperationsunternehmens der NORDAKADEMIE war eine geglückte Umsetzung dieser Absicht. So sehe ich es. Die Chance, über den Tellerrand zu sehen, lässt freilich noch viel Raum, sie produktiv zu nutzen. Dafür sollten die im Folgenden skizzierten Impulse genutzt werden.
Der Vortrag war ein vorzügliches Beispiel dafür, wie Manager sich gesellschaftlich einbringen können, wie sie auch gemeinwohlorientiert besorgt sein und sich in Aufgaben hineinarbeiten können, die unseren gesellschaftlichen Diskurs über aktuelle politische Herausforderungen befördern.
Entscheidend dafür war die Anlage der Gedankenführung des Referenten. Sie war aufgaben- und lösungsorientiert und immer offen für Einreden, Widersprüche oder Anregungen, also durchgängig diskussionsorientiert. Für diese Haltung stand auch das „oder?“ am Ende des Titels. Das war keine rhetorische Floskel und auch kein schweizer „oder?“ im Sinne eines „nicht wahr!“. Die Oder-Frage stand für die Offenheit, mit der ein Referent, der eine eigene Überzeugung zu einer gebotenen Neubewertung des Marktprinzips mitbrachte, gleichzeitig auch in eine Diskussion hineingehen, ja diese befördern wollte.
Pointiert gesagt: Hier hielt ein reflektierender Manager, der diskutieren wollte, einen Vortrag, den auch ein politisch denkender Akademiker oder ein sachkundiger Politiker hätte halten können, jeweils persönlich eingefärbt, aber identisch im Versuch, der Komplexität des Themas und einer Vielzahl unterschiedlicher empirischer, politischer, wissenschaftlicher und ethischer Aspekte gerecht zu werden, indem diese für gesellschaftliche Diskussionsprozesse zusammengeführt werden. Ich hebe dies hervor, weil diese Zusammenführung ein Leistungsziel ist, das uns in der Gestaltung unserer Foren fortlaufend inspiriert und orientiert.
Wir wollen uns auf diesen Foren den Themen zuwenden, die nur dann gut verstanden und gut angegangen werden können, wenn wissenschaftliche, wirtschaftliche, ethische und politische Aspekte gut erkannt und gut zusammengeführt werden. Dieses Ziel folgt zwei Einsichten:
- Wenn wir bei aller Spezialisierung in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft u.a.) und bei aller Spezialisierung auf immer mehr fachliche Kompetenzgemeinschaften gesellschaftlich kommunikations- und verständigungsfähig sein wollen, ist es unabdingbar, dass es in all diesen Bereichen möglichst viele Akteure gibt, die sich nicht auf nur ihren Bereich begrenzen und die zeigen, warum eine bereichsübergreifende, gemeinwohlorientierte Kommunikation geboten und wie sie möglich ist.
- Je mehr wir in diesen Jahren (ohnehin verspätet) große Transformationsaufgaben angehen, desto wichtiger wird eine gesellschaftliche Diskurs- und Verständigungsfähigkeit.
Sehr viel öfter, als es in seinem Manuskript stand, bekannte sich Dr. Lappin zu dieser Haltung und appellierte eindringlich an die Studierenden, sich nicht nur auf das rein Fachliche, zum Beispiel „das nur Betriebswirtschaftliche“ zu begrenzen.
Erkennbar war, dass der Referent insbesondere verdeutlichen wollte, dass sich mehr Menschen engagieren müssten, wenn die für ihn überfälligen Diskussions- und Reformprozesse erreicht können werden sollten. Der mehrfache Rekurs auf Stéphane Hessel und dessen Buch Indignez-vouz! (deutscher Titel Empört Euch!) zeigte, dass es dem 60jährigen Manager insbesondere um die jüngere Generation ging. In sie setzte er erkennbar Hoffnungen.
Mit seinem fast einstündigen Vortrag präsentierte er eine „Inventur von Marktversagen“. Damit sollten Aufgaben erkannt und auf eine besser geführte gesellschaftliche Diskussion hingewirkt werden, mit der Schlussfolgerungen „für notwendige ordnungspolitische Korrekturen“ erreicht und umgesetzt werden könnten. Um einen Anschein von Vollständigkeit war der Referent nicht bemüht. Ausgewählt hatte er eine Reihe aus seiner Sicht gewichtige Fälle. Stichworte für sie:
- Verbriefungen von Sub-prime-Risiken
- Cum ex
- Diesel-Gate
- Steuerlich privilegierte digitale Monopole
- QE, finanzielle Repression vs. Asset-Inflation
Hier reichen diese Stichworte, eine genauere Beschreibung kann man im Vortragsmanuskript nachlesen. In der Gesamtschau dieser Inventur stellte er die Frage, ob es sich nur um eine Reihe einzelner bedauerlicher Fehlentwicklungen handle (um „Phänomene beobachtbarer singulärer Dysfunktionalität“), oder eben um mehr, womit ordnungspolitische Korrekturbedarfe identifiziert wären und eine Neubewertung des Marktprinzips geboten wäre.
Gedankenleitend für seine kritischen Urteile und Befunde waren drei negative Implikationen der vorgestellten Entwicklungen:
- Auswirkungen auf die res publica, auf unser Gemeinwesen und dessen belastete Fiskal- und Geldpolitik.
- Eine sich verstärkende kritische Entwicklung der Vermögensverteilung.
- Ein fehlendes Ethos von Führungskräften.
Und für das Marktprinzip war seine entscheidende Frage: in welchem Geist sehen wir es? Deshalb komme es auf den Geist an, in dem wir das Marktprinzip sehen, also die Besinnung auf
- das Verhältnis zwischen Mittel und Zweck
- zwischen dem Teil (Instrument zur Allokation) und dem Ganzen (Nutzen für jeden Einzelnen in einer Volkswirtschaft) und auf
- eine menschliche/gesellschaftliche Mitte. (mehr dazu im Redemanuskript S. 1f).
In der anschließenden Diskussion gab es anspruchsvolle Nachfragen (zum Beispiel zum Verhalten gegenüber Menschenrechtsverletzungen bei chinesischen Wirtschaftspartnern, zur Beurteilung der Modern Monetary Theory (der Dr. Lappin nicht folgen mochte) oder zur Abgrenzung individualethischer Verantwortung gegenüber staatlichen Regulationspflichten), aber keine kritischen Einwände zu den kritischen Befunden des Referenten. Ich gebe zu, dass mich das ein wenig überrascht hat, kann aber auch nicht ausschließen, dass manche über das Gehörte noch intensiver nachdenken wollten, bevor sie eventuell Widersprüche vortragen wollten. Vernommen habe ich viele positive Urteile über die Vortragsveranstaltung von Teilnehmerinnen aus meinem Seminar Politik und Wirtschaft – Basiswissen und -kompetenzen für Querdenker. Zitieren möchte ich, was mir Marcel Meyer geschrieben hat:
- „Ich bin offenbar nicht der Einzige, der die von Herrn Lappin angesprochenen Themen nicht als \"singuläre Dysfunktionalitäten\" ansieht, sondern meint, die Notwendigkeit für eine öffentliche politische Auseinandersetzung mit offenem Ausgang zu der Frage zu erkennen, ob eine stärkere Regulierung der Marktkräfte diesen offenbar dem exzessiv ausgelebten neoliberalen Marktprinzips entspringenden Fehlentwicklungen Einhalt gebieten kann und wenn ja, mit welchen Mitteln dies geschehen sollte.
- Wenngleich wir nun nicht von einem Beispiel auf die Gesamtheit der Gruppe schließen können, so ist doch deutlich geworden, dass Herr Lappin es sieht wie wir im Seminar, nämlich dass auch Top-Manager eine Verantwortung und Pflicht haben, sich mit großen gesellschaftlichen Herausforderungen sowie ganz allgemein politischen Themen von einem Standpunkt und aus einer Haltung heraus zu widmen und diese proaktiv zu diskutieren, in welchem Format auch immer.
- (Unter derselben Einschränkung wie bei Punkt 2:) Auch Top-Manager einflussreicher Unternehmen haben ein Interesse daran, dass sich unsere Generation – auch hier gilt: in welchem Format auch immer – über kurz-, mittel- und langfristige Missstände in unserer komplexen Gesellschaft empört und aktiv den politischen Prozess mitgestaltet, um daran etwas zu ändern. Wir seien laut Herrn Lappin diejenigen, die darunter am meisten zu leiden hätten, wenn wir den status quo nicht hinterfragten und versuchten, zu unseren – oder zu aller – Gunsten zu ändern.“
Wir werden diese Sicht und andere im Seminargespräch im vierten Quartal wieder aufnehmen. Werden dann auch diskutieren, wie die durch Dr. Lappin aufgeworfenen Zukunftsfragen im Bundestagswahlkampf behandelt wurden. Auf dem Forum am 18. August war kritisch festgestellt worden, dass man dies vermisse. In der Perspektive wäre auch zu reflektieren, wie gut die Parteien (und auch wir) die Entwicklungsoptionen schon verstehen und als alternative, politisch beurteilbare Szenarien konzeptualisieren können.
Das Manuskript von Herrn Dipl-Ing. oec., Dr. rer. pol. Roland Lappin steht zum Download bereit.